
Wohnungsbesichtigung mal anders – Die Unterführung als Kunstinstallation
“Schicke Souterrain-Wohnung mit 720 Quadratmetern” – so eröffneten die Wendemaler am 11. November 1990 ihr neuestes Kunstprojekt. Doch anstelle einer klassischen Wohnungsanzeige verbarg sich dahinter eine ungewöhnliche Fassadengestaltung in einer der wohl meistfrequentierten Unterführungen Rüsselsheims.
Die Künstlergruppe, bestehend aus Uwe Wenzel, Martin Kirchberger, Vera Borgeas und Susanne Radau, war in den 1990er-Jahren für ihre kreativen und gesellschaftskritischen Kunstaktionen bekannt. Ihr Werk prägte das Stadtbild: von der Karstadtfassade über das Umweltamt bis hin zur Personalausweisfassasde – überall in Rüsselsheim fand man ihre Handschrift. Doch mit diesem Kunstwerk setzten sie ein besonders eindrucksvolles Statement.
Eine Stadt in Zimmer aufgeteilt


Die Unterführung wurde nicht einfach nur verschönert – sie wurde in eine begehbare Wohnung verwandelt, in der jedes “Zimmer” eine eigene Bedeutung hatte und den Besucher an einen bestimmten Ort der Stadt führte:
Das Schlafzimmer → Friedhof – ein Ort der Ruhe, aber auch des Endes.
Die Dusche → Seniorenheim – vielleicht eine Anspielung auf die Vergänglichkeit des Lebens.
Das Kinderzimmer → Schule – der Beginn des Lebensweges.
Diese Betonkunst verwandelte die graue Unterführung in eine interaktive Installation, die die Betrachter zwang, sich mit der eigenen Stadt und ihrer Umgebung auseinanderzusetzen. Es war Kunst, die sich nicht nur betrachten ließ – sie führte einen durch Rüsselsheim, ohne dass man sich bewegte.
Ein Schulweg voller Kunst
Ich kenne jeden einzelnen dieser „Räume“ nur zu gut. Unzählige Male bin ich auf meinem Schulweg zur Immanuel-Kant-Schule durch diese Unterführung gegangen. Während andere sich beeilten, um schnell ans andere Ende zu gelangen, habe ich immer wieder innegehalten und mir die Kunstwerke angeschaut. Sie waren nicht nur Wandgemälde, sondern Fenster in die Stadt, in eine Welt, die durch die Perspektive der Wendemaler neu interpretiert wurde.
Manchmal, wenn ich wieder dort entlanglaufe, denke ich daran, wie sehr sich die Stadt verändert hat – und frage mich, was die Wendemaler heute wohl aus diesem Ort machen würden. Ihre Kunst war nie statisch, nie belanglos. Sie war eine Einladung, die Stadt mit anderen Augen zu sehen – und genau das habe ich auf meinem Schulweg gelernt.