ALTE SYNAGOGE

Die Alte Synagoge in Rüsselsheim – Ein Ort des Glaubens, der Zerstörung und der Erinnerung

1845 entstand im Ortskern von Rüsselsheim eine neue Synagoge. Sie war weit mehr als nur ein Gebetshaus – sie war ein Zentrum jüdischen Lebens, ein Ort der Gemeinschaft. Neben dem Gebetsraum beherbergte das Gebäude auch eine jüdische Schule sowie eine Mikwe, ein rituelles Tauchbad, das für die jüdische Reinheitstradition essenziell ist.

Die Reichspogromnacht – Zerstörung und der Verlust einer Gemeinde

Doch die Geschichte der Synagoge ist untrennbar mit den dunkelsten Kapiteln der deutschen Vergangenheit verbunden. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, während der sogenannten Reichspogromnacht, drangen SA-Männer in das Gebäude ein und zerstörten die gesamte Inneneinrichtung. Die Bänke, die Thorarollen, die Erinnerungen – alles ging in blinder Wut verloren.

Dass die Synagoge selbst nicht niedergebrannt wurde, lag nicht an einem Funken Gnade, sondern daran, dass ein Teil des Gebäudes von einem **nichtjüdischen Ehepaar bewohnt wurde**. Die Zerstörung wurde gestoppt, doch nicht aus Mitgefühl – sondern aus pragmatischen Gründen.

Nach dem Pogrom wurde das Gebäude **zu einem Spottpreis an einen Architekten verkauft**. Er machte daraus ein Wohn- und Bürohaus. Mit jedem Umbau, mit jeder Mauer, die verändert wurde, verschwand der Bezug zum einstigen Gotteshaus. Und mit ihm die jüdische Gemeinde, die Rüsselsheim einst mitgeprägt hatte.

Diejenigen, die sich für die Schicksale der jüdischen Opfer in Rüsselsheim interessieren, sollten sich mit dem Kunstprojekt Stolpersteine auseinandersetzen. Kleine Messingplatten im Boden, die an die Menschen erinnern, die einst hier lebten – und die niemals vergessen werden dürfen.

Ein Ort der Erinnerung – Die Wiederentdeckung der Alten Synagoge

Seit 2005 steht das Gebäude leer. Doch anstatt es dem Verfall zu überlassen, wurde es von der **GEWOBAU Rüsselsheim** erworben – mit einem klaren Auftrag: einen Ort der Erinnerung zu schaffen.

Am 1. August 2008 wurde die Stiftung „Alte Synagoge“ gegründet, um diesem Ziel gerecht zu werden. Es geht nicht nur darum, ein Gebäude zu erhalten – sondern den Menschen, die hier einst beteten, lehrten, lebten, den nötigen Respekt zu zollen. Es geht darum, ihre Geschichte nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

Erinnerung sichtbar machen

Heute erinnert nicht nur eine Gedenktafel an die Synagoge. An der Fassade des Gebäudes wurden stilisierte Fenster und eine angedeutete Eingangstür angebracht – ein Symbol für das, was war und für das, was nicht mehr ist.

Die Alte Synagoge ist ein Mahnmal – gegen das Vergessen, gegen das Verdrängen, gegen das Wiederholen.

Manchmal sind es nicht die großen Monumente, die die Vergangenheit am eindringlichsten bewahren. Manchmal sind es die Spuren eines Ortes, die leise Geschichten erzählen – wenn man bereit ist, hinzuhören.

Die jüdische Gemeinde in Rüsselsheim – Geschichte, Zerstörung und Erinnerung

Eine jüdische Gemeinschaft im Wandel der Zeit

Die jüdische Gemeinde in Rüsselsheim entstand vermutlich in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (vgl. Museum der Stadt Rüsselsheim 1980, 2). Über die Jahrhunderte hinweg erlebte sie Wachstum, Integration, aber auch Verfolgung.

„1713 lebten in Rüsselsheim 22 Juden, bis 1858 stieg ihre Zahl langsam auf 123 oder 5,9 % der Einwohner an. Danach nahm sie wieder ab und lag 1930 bei 34. Dies entsprach 0,5 % der Stadtbevölkerung.“

(Scholten 2011, 5)

Dennoch wurde das Verhältnis zwischen Juden und Christen vor der nationalsozialistischen Machtübernahme von Zeitzeugen als gut und nachbarschaftlich beschrieben (vgl. Heimatverein Rüsselsheim 1987, 24).

Der Bau der Synagoge – Ein Zentrum der jüdischen Kultur

Bereits im 18. Jahrhundert existierte eine Synagoge in Rüsselsheim (vgl. Museum der Stadt Rüsselsheim 1980, 15). Da diese jedoch baufällig wurde, plante die wachsende jüdische Gemeinde im 19. Jahrhundert einen Neubau. Doch allein konnte sie die Kosten nicht tragen. Erst nach einem Spendenaufruf war die Finanzierung gesichert, und 1845 wurde die neue Synagoge in der Mainzer Straße 19 eingeweiht (vgl. ebd.).

Auch später war die jüdische Gemeinde auf Unterstützung angewiesen: Als 1929 eine Renovierung notwendig wurde, sammelte man erneut Spenden – nicht nur von jüdischen Bürgern, sondern auch von der Opel AG und der Familie Opel. Der Stadtbaumeister stellte die Baupläne kostenlos zur Verfügung. Die Wiedereröffnung wurde mit einem **Tag der offenen Tür für alle Rüsselsheimer** gefeiert (vgl. ebd., 18).

Die Reichspogromnacht – Die Zerstörung der Synagoge

Die Synagoge war mehr als ein Gebetshaus – sie war das Zentrum der jüdischen Gemeinde. Hier fanden nicht nur Gottesdienste, sondern auch **Schulunterricht, die Vorbereitung auf die Bar Mitzwa und rituelle Reinigungen** in der Mikwe statt (vgl. ebd., 15).

Doch in der Reichspogromnacht am 9. November 1938 zerstörte eine SA-Einheit die gesamte Inneneinrichtung. Dass die Synagoge nicht in Flammen aufging wie viele andere jüdische Gotteshäuser, war reiner Zufall: In der ersten Etage lebte eine christliche Familie, die als Hausmeister tätig war. Wäre das Gebäude vollständig zerstört worden, hätte man sie ebenfalls obdachlos gemacht (vgl. Schuster 2005).

Enteignung und Missbrauch als Wohnhaus

Nach der Pogromnacht wurde die jüdische Gemeinde enteignet. Noch im selben Jahr kaufte der Architekt Ferdinand Wagner die Synagoge für nur 4.000 Reichsmark – ein Bruchteil ihres tatsächlichen Wertes, der auf mindestens 11.000 Reichsmark geschätzt wurde (vgl. Scholten 2011, 8).

Beim anschließenden Umbau wurden alle jüdischen Stilelemente entfernt: Die Rundbogenfenster verschwanden, und der Davidstern über dem Eingang wurde durch ein **Arbeiterrelief im Stil der NS-Kunst ersetzt** (vgl. Schmidt 2006). Laut eines Polizeiberichts vom 16. März 1939 wurden **fast alle Kultgegenstände vernichtet**, bis auf einen **goldbestickten Thorawimpel und die Protokollbücher der Gemeinde** (vgl. ebd.).

Von der Vergessenheit zur Gedenkstätte

Über Jahrzehnte diente das Gebäude in erster Linie als Wohnhaus. Doch **2005 wurde es von der Wohnbaugesellschaft der Stadt Rüsselsheim erworben**, mit der Absicht, es als Erinnerungsstätte zu nutzen. Zwei Jahre später folgte der offizielle Beschluss, es der Gedenkkultur zu widmen.

2008 wurde gemeinsam mit der Wohnbaugesellschaft die Stiftung Alte Synagoge gegründet (vgl. Landesarbeitsgemeinschaft o. J.). Diese finanzierte:

  • Die **Umbauten im Gebäude**
  • Die **Neugestaltung des Innenhofs**
  • Die **Rekonstruktion der Rundbogenfenster als Reliefs an der Fassade**

Am 11. September 2016 wurde die Gedenkstätte feierlich eingeweiht.

Ein Ort des Dialogs

Heute ist die Alte Synagoge nicht nur ein Erinnerungsort, sondern auch eine Plattform für Begegnungen. Die Stiftung formuliert ihr Ziel wie folgt:

„Im Mittelpunkt der Stiftungsarbeit steht neben der Erforschung der Geschichte der jüdischen Gemeinde die Förderung des Dialogs und des gegenseitigen Verständnisses der in Rüsselsheim lebenden Menschen unterschiedlicher Herkunft und Religion.“

(Stadt- und Industriemuseum Rüsselsheim o. J.)

Durch Vorträge, Diskussionen, Workshops und Lesungen hält die Stiftung die Geschichte lebendig – eine Erinnerung daran, dass das Geschehene nicht nur dokumentiert, sondern auch reflektiert werden muss.

Quellen

Text und Foto: Fatma Cevik

Literatur

  • Heimatverein Rüsselsheim (1987). Rüsselsheim und seine Umgebung in Vergangenheit und Gegenwart. Rucilin, 10, 21–26.
  • Jäger, Markus (2016). Wiederherstellung der alten Synagoge in Rüsselsheim schreitet voran – Einweihung im September. Main-Spitze, 14.6.2016.
  • Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten und Erinnerungsinitiativen zur NS-Zeit in Hessen (o. J.). Stiftung Alte Synagoge. www.gedenken-in-hessen.de [08.09.2018].
  • Museum der Stadt Rüsselsheim (1980). Juden in Rüsselsheim: Katalog zur Ausstellung vom 12. Oktober – 31. Dezember 1980. Rüsselsheim.
  • Schmidt, Elfriede (2006). Begegnen, Erinnern, Forschen. Echo Online, 31.01.2006.
  • Scholten, Jens (2011). Jüdisches Leben in Rüsselsheim: Einladung zu einem Rundgang. Rüsselsheim.
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