Europabrunnen*

27. August 2017

 

Europa – eine Liebesgeschichte: In der griechischen Mythologie verwandelt sich Zeus in einen Stier, um sich vor Hera zu verstecken und die bezaubernde Europa zu entführen. Er lässt sich gemeinsam mit ihr auf Kreta nieder und sie bekommen drei Kinder: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon.
Der Europabrunnen gehört zu den wenigen noch aktiven Brunnen in Rüsselsheim und ist als Spielplatz bei kleinen Kindern sehr beliebt. Der Brunnen wurde 1980 von dem Bildhauer Professor Gernot Rumpf gestaltet. Er besteht aus vier Bronzefiguren, wobei nur drei ihren Ursprung in der Sage haben: Zeus als Stier im Zentrum, ihm gegenüber eine gesichtslose Europa, die es ermöglicht, den eigenen Kopf auf dem Torso aufzulegen, und eine Eule als Beobachter. Die vierte Figur entdeckt man ganz unscheinbar am Rande der Szene. Es ist eine kleine Maus. Sie ist das Markenzeichen des Künstlers und ziert alle seine Skulpturen.

„Der einfache Betrachter sieht hier einen Stier [...] und ist zufrieden. Der andere sieht ebenfalls diesen Stier und erkennt gleichzeitig die mythologischen Hintergründe sowie deren Bezug zu unserer Zeit.“ Mit diesen Sätzen äußerte sich Professor Gernot Rumpf, der Schöpfer des Rüsselsheimer Europabrunnes, bei dessen Einweihung am 3. September 1980. Das Kunstwerk kann demnach in ganz unterschiedlicher Weise gesehen und verstanden werden, als bloße Kunst im öffentlichen Raum, als Verbildlichung der griechischen Mythologie, als Objekt der Rüsselsheimer Stadtgeschichte, als Ausdruck des sich formierenden Europagedankens um 1980 oder als Beispiel für die Denkmalsetzungen zu dieser Zeit – die Betrachtung ist in vielerlei Hinsicht spannend.  Der sich auf einer Fläche von 5,5 mal 3 Metern erstreckende Europabrunnen (vgl. Kulturgegenstände 1992) ist in der Rüsselsheimer Innenstadt auf dem Europaplatz gelegen. Seiner Gestaltung ging eine Ausschreibung der Stadt Rüsselsheim voraus, die 1978 Gernot Rumpf gewann. Der Künstler wurde 1941 in Kaiserslautern in eine Bildhauerfamilie geboren und war vor allem regional im Rhein-Main-Gebiet aktiv (vgl. Otto 1988, 251). Vereinzelt schuf er aber auch Werke im internationalen Raum, so zum Beispiel in Tokio oder Jerusalem. Bekannt wurde er durch seine Brunnenanlagen, die häufig von mythologischen oder regionalen Motiven geprägt sind. Bemerkenswert ist vielleicht an dieser Stelle noch, dass bereits sein Vater Otto Rumpf (1902–1984) 1953 eine Plastik für das Kurfürstliche Schloss in Koblenz geschaffen hatte, die an den Mythos der Europafigur angelehnt war (vgl. Vollmer 1958, 131). Für die Fertigstellung der Brunnenanlage in Rüsselsheim stellte die Stadt insgesamt 65.000 Mark zur Verfügung (vgl. Rüsselsheimer Echo, 04.09.1980a). Der Brunnen besteht aus vier Bronze-Elementen, die in Lebensgröße in der renommierten Gießerei Karl Casper in Remchingen-Nöttingen gegossen wurden (vgl. Rüsselsheimer Echo, 04.09.1980b). Sie stellen einen Stier, eine Frauen-Figur, eine Eule und eine Maus dar. Der aus einer Erhebung hervorbrechende Stier – hier den Gott Zeus verkörpernd – trägt drei Hörnerpaare und schnaubt in regelmäßigen Abständen Wasser aus seinen Nüstern. Ihm gegenüber steht eine Figur, auf die er scheinbar zustürmt und bei der es sich um die Darstellung der Europa handelt. Auffällig ist an ihr der nur in Umrissen angedeutete Kopf. Er weist an den Seiten zwei lange, geflochtene Zöpfe auf und ist hinten so geformt, dass man den eigenen Kopf auflegen kann, um der Figur ein Gesicht zu geben. Zur rechten Seite der Europa steht am Beckenrand eine Wasser speiende Eule mit menschlichem Antlitz, welche die Göttin Athene verkörpern soll. Zur Rechten des Stiers ist noch eine kleine Maus zu sehen, die dem Brunnen abgewandt ist und sich scheinbar von diesem wegbewegt. Der Mythos von der Entführung der phönizischen Königstochter Europa besagt, dass der in sie verliebte griechische Gott Zeus sich in einen Stier verwandelte, um sich ihr unerkannt zu nähern. Sie stieg auf seinen Rücken und er entführte sie über das Meer auf die Insel Kreta, wo sie drei Söhne von ihm gebar. Europa verblieb als Königin fern von ihrer Heimat auf Kreta und der neue Kontinent, auf dem sie nun lebte, wurde nach ihr benannt (vgl. Heldmann 2016). Zum zeitgeschichtlichen Kontext des Denkmals ist zu sagen, dass seine Einweihung in einer Phase erfolgte, in der der europäische Gedanke maßgeblich an Einfluss gewonnen hatte. 1973 wurde die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) durch den Beitritt von Dänemark, Irland und Großbritannien erweitert, damit wurden die wirtschaftlichen Verflechtungen innerhalb Westeuropas immer enger. In Helsinki begannen gleichzeitig die blockübergreifenden KSZE-Verhandlungen. 1974/75 beförderte der Untergang der rechtsgerichteten Diktaturen in Portugal und Spanien die Demokratisierung Westeuropas, ebenso die Ablösung der Militärdiktatur in Griechenland. 1979 fanden schließlich die ersten Wahlen zu einem Europäischen Parlament statt, an denen sich in der Bundesrepublik Deutschland über 65 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten (vgl. Europäische Union). Dass der europäischen Integration die Zukunft gehören wird, zeichnete sich also zu diesem Zeitpunkt immer deutlicher ab. Die Aufstellung des Europabrunnens fügt sich in dieses Stimmungsbild ein. Sie sollte aber auch im Rahmen der damaligen Innenstadtsanierung (vgl. Otto 1981, 174) „die unterkühlte Stadtlandschaft“ weiter verschönern, wie Oberbürgermeister Dr. Karl-Heinz Storsberg in seiner Ansprache am 3. September 1980 meinte, nicht ohne zu betonen, dass die Wahl des Motivs jedoch vor allem der baulichen Vertiefung des europäischen Gedankens geschuldet gewesen sei. Der Künstler Gernot Rumpf unterstrich bei gleicher Gelegenheit, dass der Brunnen nicht als Museumsstück, sondern als „Mitmachdenkmal“ gedacht sei – der partizipative Charakter der Anlage fordere dazu auf, sich mit Europa zu identifizieren und der Idee „sein Gesicht zu verleihen“. Europa sei laut Oberbürgermeister Dr. Storsberg als gemeinsames Projekt zu verstehen, für dessen weitere Entwicklung viel Arbeit und Pflege nötig sei. Hierbei müsse besonders Weisheit helfen, die in der Brunnenanlage durch die Eulenfigur der Athene verkörpert werde. Sie lässt sich auch als Abwehr gegen das Unheil – hier dargestellt durch eine Maus – interpretieren, da Eulen zu den natürlichen Feinden von Mäusen gehören (vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.09.1980). In anderen Quellen wie der Artmap von Sam Khayari wird die Maus dagegen als Markenzeichen des Künstlers erwähnt. Das öffentliche Zelebrieren des Europagedankens bei der Einweihungsfeier des Brunnens wurde zudem dadurch zum Ausdruck gebracht, dass sich unter den geladenen Gästen Repräsentanten der Rüsselsheimer Partnerstädte aus Frankreich (Evreux) und Finnland (Varkaus) befanden (vgl. Rüsselsheimer Echo, 04.09.1980c). Der Rüsselsheimer Europabrunnen steht für verschiedene Ideen und ist nicht zuletzt denkmalgeschichtlich interessant, weil er im Unterschied zu den traditionellen Denkmalsetzungen, die vornehmlich an Vergangenes erinnern wollen, eigentlich auf die Zukunft ausgerichtet ist und den Betrachtenden nicht von oben herab belehrt, sondern ihn zum Mitmachen und Nachdenken anregen will (vgl. Schmoll 2005). Er ist damit ein lehrreiches Zeugnis für die gesellschaftspolitischen Stimmungen jener Zeit, in der er entstanden ist und in der die Integration Europas als Ausweg aus der damaligen Ost-West-Konfrontation gesehen wurde. Der Europa-Gedanke war seinerzeit vor allem mit großen Hoffnungen verbunden und nicht mit jenem Skeptizismus, der sich in der Gegenwart breitgemacht hat (Stichwort: Brexit).

Text und Foto Julia Kleine-Bley

 

 

Literatur  

Europäische Union: Die Geschichte der Europäischen Union. https://europa.eu/european-union/about-eu/history_de#1970-1979 [11.09.2018]. Heldmann, Konrad (2016): Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus. Die Entführung Europas in den Darstellungen der griechischen und römischen Antike. Göttingen. Otto, Rudolf (1981). Baukräne über Rüsselsheim: 25 Jahre Stadtentwicklung (1950–75). Rüsselsheim. Otto, Rudolf (1988): Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim. Rüsselsheim. Schmoll, Friedemann (2005): Denkmal. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte eines öffentlichen Erinnerungsmediums. Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 47 (1–16). Vollmer, Hans (1958): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler des XX. Jahrhunderts. Band 4. Leipzig.  

Quellen

(alle aus dem Stadtarchiv Rüsselsheim)  

Ansprache von Oberbürgermeister Dr. Storsberg zur Einweihung des Europabrunnens am 03.09.1980.

Ansprache von Herrn Prof. Rumpf anläßlich der Einweihung des Europabrunnens in Rüsselsheim am 03.09.1980.

Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994).

Kulturgegenstände der Stadt Rüsselsheim. Manuskript. Rüsselsheim (Stadtverwaltung).

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.09.1980: Wer Lust dazu hat, kann als „Europa“ posieren.

Rüsselsheimer Echo vom 04.09.1980a. Rüsselsheimer Echo vom 04.09.1980b (js):

Der Stier, Dame Europa und die Eule. Professor Gernot Rumpf erläutert seine Gedanken bei der Gestaltung des Brunnens.

Rüsselsheimer Echo vom 04.09.1980c (js): Kunst zum Anfassen und zum Mitmachen. Einweihung des Europabrunnens – Gedanken vertiefen – Weg weiter beschreiten.

 

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