Leinreiter-Denkmal*

22. August 2017

Ein imposantes Pferd mit einem Reiter auf dem Rücken: Fast in „Atlas-Manier“ scheint das Pferd nicht nur Schiffe stromaufwärts zu ziehen, sondern auch das Leid aller Menschen. Stoisch blickt der Reiter in Richtung des Mains. Ein Rüsselsheimer Wahrzeichen, das mittlerweile u.a. auf T-Shirts prangt und sogar das Logo des Rüsselsheimer Bräus verziert. Auch wenn die Skulptur erst seit 1994 den Landungsplatz schmückt, habe ich das Gefühl, sie gehört so ikonisch zu Rüsselsheim wie das Adam-Opel-Denkmal.

Die 3,15m hohe Bronzefigur des Darmstädter Künstlers Detlef Kraft erinnert an die Leinreiter, die einst über die Mainländer die Schiffe und Kähne zwischen Mainz und Frankfurt stromaufwärts zogen. Bis zu sechs Pferde waren nötig, um ein Schiff mit einer Geschwindigkeit von bis zu 3 km/h den Leinpfad entlang zu schleppen. Die Pappeln am Mainufer erinnern an den ehemaligen Treidelpfad. Die Anspannstation befand sich am Gasthof Holz an der Mainpforte, das wir heute als das Hotel Höll am Main kennen. Die Gründung der Stadt Rüsselsheim ist unter anderem auch auf die Hafenfunktion des Ortes zurückzuführen.

Nachdenklich, erschöpft, fast schon andächtig stehen sie da – der Leinreiter und sein Pferd. Sie wirken wie eine Einheit am Mainufer auf dem Landungsplatz als Symbol für eine traditionsreiche Tätigkeit, für ein Handwerk, das in der Industriestadt Rüsselsheim am Main lange Zeit eher in Vergessenheit geraten war. Das Leinreiterdenkmal gehört zeitgeschichtlich zu den jüngeren Denkmälern der Stadt, gilt heute aber dennoch als eines ihrer zentralen „Wahrzeichen“.

1991 wurde die Denkmalaufstellung von der Stadt Rüsselsheim initiiert, um an die Handelstradition der Treidelschifffahrt und Leinreiterei zu erinnern, die vor der Industrialisierung in Rüsselsheim als wichtigem Standort zwischen den Handelsstädten Mainz und Frankfurt eine große Rolle spielte (vgl. Main-Spitze, 10.08.1991).

Durch das sogenannte „Treideln“ wurden einst Handels- und Passagierschiffe, die sich nicht aus eigener Kraft fortbewegen konnten, stromaufwärts geschleppt. Dafür wurden sie vom Land aus über eine Leine entlang eines parallel zum Fluss verlaufenden „Treidelpfades“ gezogen. Diese Arbeit verrichteten in der Regel Menschen und Tiere wie Pferde, geführt von den sogenannten „Leinreitern“. Diese für den Ort einst bedeutsame Tätigkeit sollte nach Aussage der Denkmalinitiatoren wieder stärker ins Bewusstsein der Bürger gerufen werden. Angesichts der starken industriellen Prägung insbesondere durch die Firma Opel sei die Bedeutung Rüsselsheims als Schifffahrtsstandort aus dem kulturellen Gedächtnis der Stadt verschwunden.

Das Leinreiterdenkmal solle daran erinnern, dass die Geschichte Rüsselsheims nicht von der Bedeutung des Mains zu trennen sei und dass diese Bindung vielleicht sogar eine Renaissance erleben könne (vgl. Rüsselsheimer Echo, 13.06.1994). Die Idee und das finale Modell des Leinreiterdenkmals stammen von dem in Darmstadt ansässigen Künstler und Bildhauer Detlef Kraft, geb. 1950 in Berlin. Sein Entwurf wurde im Rahmen eines Wettbewerbs von sieben Modellen ausgewählt, da sein Vorschlag „der Historie am ehesten nachempfunden [sei], ohne zugleich in nackten Naturalismus abzugleiten“ (Rüsselsheimer Echo, 10.08.1991), so der damalige Oberbürgermeister Gerhard Löffert. Kunsthistorisch greift Krafts Plastik den Epochenstil der 1990er-Jahre auf, indem es sich an einer möglichst einfachen, realistischen Darstellung des Leinreiters orientiert, mit der er zugleich ein Symbol für die vorindustrielle Arbeitswelt schuf.
Nach einem dreijährigen Fertigungsprozess wurde das Leinreiterdenkmal am 9. Juni 1994 aufgestellt.

Es handelt sich um eine Plastik aus anthrazitfarbenem Bronzematerial, zirka 3,15 Meter hoch, gemessen bis zur Hutspitze des Reiters, und zirka drei Meter lang. Sie wurde in einem Stück gegossen und auf einem niedrigen Sockel aus rotem Sandstein montiert. Die Plastik stellt einen überlebensgroßen, männlichen Reiter dar, der auf einem sehr kräftig wirkenden Pferd sitzt, allerdings nicht mit dem Rücken nach hinten, sondern nach vorne, wobei die Beinhaltung an einen Damensitz erinnert. Der Mann hat eine Hand auf seinem Oberschenkel, die andere auf dem Rücken des Pferdes abgelegt. Sein Oberkörper wirkt in sich zusammengesunken und wenig straff, schräg blickt der Reiter nach hinten in Richtung Main, wo sich sein Blick in der Ferne zu verlieren scheint. Der Mann trägt einen Vollbart und von seiner Kleidung sind lediglich Hut und Stiefel zu erkennen, seine restliche Bekleidung ist aufgrund des eher groben, nur andeutenden Gestaltungsstils der Skulptur nicht zu identifizieren. Auch das Pferd wurde überlebensgroß gestaltet und sieht aufgrund seiner kräftigen Beine und des großen Rumpfes sehr robust aus. Es hält den Kopf gesenkt, sein Hals ist gekrümmt und auf beiden Seiten des Halses wird die Mähne des Pferdes angedeutet. Die Augen sind geöffnet, das Maul geschlossen. Durch diese Körperhaltung erweckt das Pferd beim Betrachter den Eindruck, es käme nach längerer Anstrengung nun wieder zur Ruhe. Gleichzeitig vermittelt die gebeugte Kopfhaltung eine gewisse Form der Demut – vor seinem Reiter und vor der schweren Arbeit, die beide gemeinsam verrichtet haben.
Die glatt-glänzende Oberfläche, die rundlich-fließende Form der Plastik und auch die gebeugte Kopfhaltung des Pferdes laden den Betrachter regelrecht dazu ein, dem Pferd über die Flanken oder den Kopf zu streichen. Bereits bei der Planung des Leinreiterdenkmals habe man nach Aussage von Stadt und Künstler die Intention verfolgt, die Skulptur möglichst alltags- und kinderfreundlich zu gestalten, um sie so als eine Art Erlebnis- und Gebrauchsgegenstand in die Mainuferumgebung zu integrieren.

An seinem heutigen Standort auf dem Landungsplatz an der Mainpromenade steht der Reiter mitten im Geschehen: Man kann ihn umgehen, anfassen, darauf spielen – ihn sozusagen aktiv erkunden
(vgl. Rüsselsheimer Echo, 10.08.1991; Main-Spitze, 10.08.1991, 24.03.1993).
Diese Platzierung verdeutlicht die Tendenz der postmodernen Denkmalkultur weg von Ehrfurcht gebietenden Anschauungsobjekten hin zu Denkmälern der Alltagsnähe, des Anfassens und Begreifens (vgl. Lipp 2008, 46). Diesem Streben nach Nähe und Alltagswirklichkeit steht jedoch das Merkmal der Authentizität als zentraler Wert in der gegenwärtigen Denkmalkultur entgegen (vgl. Seidenspinner 2006, 10). Die Authentizitätsfrage wurde insbesondere im Hinblick auf die Standortwahl des Leinreiterdenkmals und dessen Namengebung vielfach diskutiert. Ursprünglich wurde der Leinreiter unmittelbar am Mainufer, auf dem dort vermuteten alten Treidelpfad, aufgestellt.

Diesen Standort hielten Denkmalschützer und das städtische Kulturamt für den passendsten (vgl. Rüsselsheimer Echo, 19.01.1993). Ihre Entscheidung wurde jedoch noch vor der Fertigstellung und auch nach der Aufstellung des Denkmals vielfach diskutiert. Kritiker wie der Ginsheimer Lehrer Armin Helm (1947–2001) merkten an, die angenommene Nähe des Leinpfades zum Main sei historisch falsch: Aufgrund der Gefahr für Reiter und Pferd, in den Main gezogen zu werden, müsse der Leinpfad weiter vom Ufer entfernt gelegen haben (vgl. Rüsselsheimer Echo, 18.08.1994).

Und auch vonseiten der Stadt wurde Kritik geäußert: Der Treidelpfad direkt am Ufer spiele heutzutage keine Rolle mehr, der Reiter müsse unmittelbar auf dem Landungsplatz aufgestellt werden, „wo er gesehen werde“ (Zitat des ehemaligen Oberbürgermeisters Gerhard Löffert, vgl. Main-Spitze, 24.03.1993). Am 24. November 2016 wurde das Leinreiterdenkmal schließlich versetzt, zirka drei Meter weiter entfernt vom Mainufer. Jedoch geschah die Umsetzung nicht aufgrund der geführten Diskussionen, sondern im Zuge der Umgestaltung des Landungsplatzes für den Bau eines neuen Fahrradweges, der nun dort verläuft, wo einst der Reiter seinen Platz hatte (vgl. Rüsselsheimer Echo Online 2016). Auch über die Betitelung des Denkmals herrschte Uneinigkeit: Während das Denkmal im heimischen Sprachgebrauch „Leinereiter“ genannt wurde und außerdem die Bezeichnungen „Leinenreiter“ oder „Leinpfadreiter“ in historischen Aufzeichnungen zu finden sind, wurde schließlich in einer offiziellen Mitteilung der Stadt Rüsselsheim der Name „Leinreiter“ als historisch korrekt festgelegt (vgl. Main Spitze vom 24.06.1994).

Auch hier steht somit das Ideal der Authentizität dem Wunsch nach Nähe zur Alltagswirklichkeit entgegen. Laut Wolfgang Seidenspinner ist die Authentizität eines Denkmals heute auf einer idealisierenden Meta- oder Deutungsebene verankert: „[D]as Authentische eines Denkmals [ist] seine entsprechende Deutung, die ihm zugemessene, gesellschaftlich ausgehandelte Bedeutung“ (Seidenspinner 2007, 2). Zwar werde die Authentizität eines Denkmals auch an den 1994 im sogenannten „Nara-Dokument über Authentizität“ festgelegten Aspekten Form, Material und Substanz, Funktion und Gebrauch, Bauweisen und Herstellungsprozesse sowie Ort und Situation bemessen, entscheidend sei jedoch die übergeordnete Bedeutung des Denkmals, welche immer wieder neu erfahren und bestimmt werden kann und wird (vgl. Will 2006, 93). In dieser Hinsicht ist es abschließend interessant zu erwähnen, dass dem Leinreiterdenkmal nachträglich 1996 eine Tafel beigefügt wurde, auf der die laut Seidenspinner so entscheidende „gesellschaftlich ausgehandelte Bedeutung“ des Denkmals eindeutig festgehalten wurde. Mit der Aufstellung dieser Tafel kam die Stadt auch der öffentlich geäußerten Kritik nach, der Name und die historische Bedeutung des Denkmals seien für den Betrachter auf den ersten Blick nicht eindeutig erkennbar (vgl. Main Spitze, 24.06.1994).

 Literatur

Lipp, Wilfried (2008). Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege. Wien, Köln, Weimar.

Schmoll, Friedemann (2005): Denkmal. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte eines öffentlichen Erinnerungsmediums. Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 47, 1–16.

Seidenspinner, Wolfgang (2006): Authentizität. Kulturanthropologisch-erinnerungskundliche Annäherungen an ein zentrales Wissenschaftskonzept im Blick auf das Weltkulturerbe. Volkskunde in Rheinland-Pfalz, 20, 5–39.

Seidenspinner, Wolfgang (2007): Woran ist Authentizität gebunden? Von der Authentizität zu den Authentizitäten des Denkmals. kunsttexte.de, Nr. 3, https://edoc.hu-berlin.de/bitstream/handle/18452/7720/seidenspinner.pdf [15.08.18].

Will, Thomas (2006): Die Autorität der Sache. Zur Wahrheit und Echtheit von Denkmalen. In: Meier, Hans-Rudolf; Scheumann, Ingrid (Hg.). Echt – alt – schön – wahr. Zeitschichten der Denkmalpflege (82–93). München.

 

Quellen

Text und Foto: Saskia Wöhler

Main-Spitze vom 10.08.1991, 24.03.1993, 24.06.1994 (Stadtarchiv Rüsselsheim, Dokumente zum Denkmal Nr. 360-65).

Rüsselsheimer Echo Online (2016). Die kurze Reise des Leinreiters.

https://www.fnp.de/lokales/kreis-gross-gerau/ruesselsheim-ort29367/kurze-reise-leinreiters-10512660.html [06.01.2019].

Rüsselsheimer Echo vom 10.08.1991, 19.01.1993, 13.06.1994, 18.08.1994

(Stadtarchiv Rüsselsheim, Dokumente zum Denkmal Nr. 360-65).


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