UWE WENZEL

Ich treffe Uwe Wenzel. Fast gleichzeitig kommen wir an seinem Atelier in Darmstadt an. Ein Moment, in dem sich Zeit und Raum verdichten, als wäre es kein Zufall, sondern eine Verabredung, die sich im Fluss der Jahre selbst geschrieben hat. Die Begrüßung ist warm, fast vertraut, als hätte ich ihn schon oft getroffen, in einem anderen Leben oder in einer Skizze, die nie ganz vollendet wurde. Ein kurzer Blick in den Raum, in dem Ideen zu Form werden, Gedanken sich in Skizzen verirren, in Tonmodellen verharren, auf Leinwänden atmen. Dann die Einladung: Kaffee, Streuselkuchen, Gespräch.

Die Anfänge

“Wo bist du in Rüsselsheim aufgewachsen?” frage ich, und es ist, als würde ich eine alte Filmrolle anstoßen. Ein leises Klicken, das Bild springt an. Haßloch-Nord, Ernst-Barlach-Straße. Unweit von “Erinnern und Vergessen”, der Fassadenarbeit, die an Käthe Kollwitz und Ernst Barlach erinnert. Ein Denkmal des Wandels, der Erinnerung, der Lücken im Stadtbild, die sich füllen und wieder leeren, als wäre Kunst ein Atemzug.

Hier beginnt seine Geschichte. Graue Fassaden, Ecken, die er kannte, und die später zu Leinwänden wurden. Dann die Wendemaler. Kein Kollektiv von Straßenkünstlern, sondern Spurensucher, Kartographen einer Stadt im Wandel. Keine reine Rebellion, sondern eine archäologische Expedition in die Gegenwart, die in Farben spricht.

Begegnung und erste Werke

Uwe und Martin Kirchberger, alte Schulfreunde. Nach der 10. Klasse verlieren sie sich aus den Augen, nur um sich Jahre später, an der Kreuzung ihrer Wege, in der Feuerbachstraße wiederzufinden. Wiedersehen ist ein seltsames Phänomen, manchmal gleicht es einem Spiegel, der lange eingelagert war, nur um plötzlich ein Bild aus der Vergangenheit zu reflektieren. Die Freundschaft ist sofort wieder da, als hätte sie sich in der Zwischenzeit nur ausgeruht.

Dann die Fassade des Kulturcafés. Fenster, zugemauert, weil sich Nachbarn über den Lärm beschwert hatten. Stille, konserviert in Beton. Doch was ist eine Wand anderes als eine ungeschriebene Geschichte? Sie verputzen die Oberfläche, setzen Zeichen, für sich, füreinander, für die, die es sehen werden. Claus Stieglitz hält es mit der Kamera fest. Dann die spontane Idee: Selbstporträts, mit Maurerkellen in der Hand. Die ersten Spuren, die erste sichtbare Erinnerung, der erste Widerhall in einer Stadt, die sonst gerne vergisst.

Die Wende für die Wände

Die Idee wächst. Jahrzehnte später erneuert Uwe das Wandbild auf Wunsch von Michael Kirchberger, als Erinnerung an seinen Bruder. Doch zurück in die 1980er. Die Wendemaler beginnen systematisch zu arbeiten, ziehen durch die Stadt, fotografieren Wände, suchen nach Leinwänden, nach Resonanz. Dann die kühne Frage an die Stadt: “Wo können wir anfangen?” Eine Antwort. Das Passamt.

Ein Projekt entsteht: “Projekt Erika”. Eigentlich geplant für 1984, im Orwell-Jahr, realisiert 1985. Das Adam-Opel-Personalausweis sorgt für Proteste. Im Stadtparlament entbrennt eine Debatte über das demokratische Grundverständnis künstlerischer Gestaltung und Mitbestimmung. Der Aufschrei führt zu einem Artikel im Spiegel, einem Beitrag in der Hessenschau. Die Wendemaler sind nun mehr als eine Idee, sie sind ein Echo auf Beton.

Die Stadt als Leinwand

Es folgt die Karstadtfassade. Der OH-Mega auf dem Bunker. Die vier Unterführungen in der Varkausstraße. Jedes neue Werk ein Dialog, eine Frage, eine Spur. Doch mit Kirchbergers tragischem Tod 1991 verändert sich alles. Uwe führt die Arbeit weiter, bis 1993. Er vollendet Entwürfe, die noch mit Martin entstanden sind: Die Filmstreifen am Riedcasino. Den Umweltrechner am Umweltamt, an dem sie bereits gemeinsam Figuren produziert hatten. Dann folgt gemeinsam mit seiner damaligen Partnerin Vera Bourgeois unter anderem die Kamera Obscura, kurzerhand aus einem Schaukasten in der Fußgängerzone gebaut. 1×1 Meter große Fotoabzüge entstehen – sie existieren heute nicht mehr. Dafür aber das Lassalle-Denkmal vor der Stadthalle.

Kunst als Stadtgedächtnis

Wir sprechen über Kunst im öffentlichen Raum. Über Identität, Zugänglichkeit, Wahrnehmung. Über das Verhältnis von Kunst und Stadt. Kunst als Narrativ, als Einladung zur Erinnerung. Uwe erzählt von VHS-Kursen für experimentelles Malen, von Jugendprojekten, von Schulen, von Ausstellungen bei MITCH, von der Teilnahme am Kultursommer. Ich höre zu. Und erkenne mich in diesen Geschichten. Auch ich habe VHS-Kurse gegeben. Auch ich habe mit der Jugendförderung gearbeitet, auch ich hatte meine ersten Ausstellungen bei MITCH. Auch ich habe am Kultursommer teilgenommen. Auch ich habe einen Freund auf tragische Weise verloren.

Spuren und Zukünftiges

Zurück im Atelier. Mein Blick bleibt am Keramikkaninchen hängen. Ich kenne es. Der Hasenbrunnen in Haßloch-Nord. Eine weitere Spur von Uwe in der Stadt. Nebenan die Tonvorlage für die Bronze-Diakonisse in Eisenach. Ich frage nach dem Quintuplet, seit 2024 am Eingang zum Vernapark. Uwe erzählt von der Entstehung, den Entwürfen, den Sattel und Pedale von Fritz Schmidt jr., von seiner kommenden Ausstellung in Darmstadt.

Ein Blick in die Vergangenheit, eine Vision für die Zukunft

Wir reden über das Trompe-l’œil, das Uwe Mitte der 90er erneuerte. Ich zeige ihm eine Fotografie aus dem Jahr 1943, eine Ansicht, die er selbst noch nicht kannte. Dann kommen wir auf einen Sockel im Vernapark, scheinbar ziellos in der Landschaft stehend. “Was stand hier?” fragt Uwe. Ich zeige ihm eine Fotografie aus dem Jahr 1930: das Sonnenmädchen von Heinrich Jobst. Eine Bronzefigur, die einst hier stand. Wir sprechen darüber, wie es wäre, wenn dort wieder eine Skulptur stünde. Vergangenheit und Zukunft miteinander verknüpft. Eine weitere Parallele, die uns an diesem Tag verbindet.

Ein gemeinsamer Rundgang

Der Tag geht zu Ende, aber etwas bleibt. Vielleicht, denke ich, ist dies nicht unser letzter Spaziergang durch diese Stadt, nicht das letzte Mal, dass wir uns auf die Spuren der Vergangenheit begeben, um sie mit der Zukunft zu verknüpfen. Ein Wendemaler X Artmap-Rundgang, eine Reise durch die sichtbaren und unsichtbaren Geschichten dieser Stadt. Manche sind noch da, manche sind verschwunden, und vielleicht ist es an uns, sie wieder sichtbar zu machen.

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