CHRISTIAN BIHN

ARTSbesuch mit Christian Bihn – Erinnerung, Diskurs und die Zukunft der Kultur

Ein Wiedersehen in der Festung

Heute ist es ein ehrwürdiger Ort, an dem ich verabredet bin – die Rüsselsheimer Festung, Heimat des Stadt- und Industriemuseums. Und genau hier war auch mein erstes Treffen mit meinem heutigen Gesprächspartner: Christian Bihn. Damals schrieb er an seiner Masterthesis und hatte sich für die Artmap als Thema entschieden. Wer hätte gedacht, dass sich unsere Wege danach so oft kreuzen würden? Aus der ersten Begegnung wurde eine Freundschaft.

Ich laufe durch den Tunnel der Festungsanlage in den Hof, die Sonne steht tief, taucht das alte Gemäuer in warmes Licht. Im Café in der Festung wartet Christian bereits. Um uns herum geselliges Treiben, Stimmen mischen sich mit dem leichten Klirren von Kaffeetassen, doch zwischen all dem finden wir die Ruhe für unser Gespräch.

Vom zaghaften Start zur Geschichtswissenschaft

Christian ist in der A-Siedlung aufgewachsen, doch seinen Anstoß ins Leben brauchte er manchmal. Schon seine Geburt war ein Kaiserschnitt, und dieser kleine Schubs zieht sich durch viele seiner frühen Jahre – bis hin zur Schulzeit an der Immanuel-Kant-Schule. Ohne Sport oder Musik war der Anschluss erst einmal schwierig, ein Gefühl, das mir nicht fremd ist. Doch in der Oberstufe kommt die Wendung. Es ist seine Geschichtslehrerin, die sein Interesse weckt und ihn auf eine Spur setzt, die er bis heute verfolgt. Er studiert Geschichte, Philosophie und Bildungswissenschaften.

Für seine Bachelorarbeit taucht er tief ins Museum ein, doch für den Master soll es persönlicher werden. Die Erinnerungskultur beschäftigt ihn – die Frage, wie Geschichte in der Gegenwart lebendig bleibt. Die Artmap Rüsselsheim wird sein Forschungsgegenstand, und er untersucht, wie sie sich für die Erwachsenenbildung eignet. Während er sich mit dem Thema auseinandersetzt, entsteht in Zusammenarbeit mit der Stadt Rüsselsheim, der Uni Mainz und mir ein Projekt, das die Artmap erweitert. Christian wird Teil davon.

Die Begegnung mit der Kulturvermittlung

Während des gesamten Studiums arbeitet Christian im Stadt- und Industriemuseum, führt Besucher:innen durch die Geschichte der Stadt, entwickelt Konzepte zur Geschichtsdidaktik. Die Festung wird ihm vertraut, jeder Winkel, jede Wand erzählt ihre eigene Geschichte. Doch das Museum ist nicht die einzige kulturelle Institution an diesem Ort. Durch die Nähe zu den Opelvillen und dem Kunstverein Rüsselsheim wächst seine Neugier – nicht nur über Kultur zu sprechen, sondern sie selbst mitzugestalten.

Er stößt zum Freien Kunst- und Kulturverein, wo sich unsere Wege erneut kreuzen. Damals war ich Vorsitzender, und gemeinsam organisierten wir Veranstaltungen für den Kultursommer. Ein Moment bleibt besonders haften: die Heimatabend-Serie. An einem dieser Abende, in den historischen Räumen des Chausseehauses, trägt Christian seinen Text „Rucilin bifrons“ vor, während ich mein Manifest „Der Kulturfeind“ lese. Stephan Völker begleitet uns musikalisch, und nach der Lesung entfaltet sich ein intensiver Dialog. Es ist einer dieser Abende, an denen Kultur nicht nur passiert, sondern eine Bewegung auslöst. Für Christian ein Schlüsselmoment: die Erkenntnis, dass Kultur nicht im Monolog existiert, sondern im Diskurs lebendig wird.

Kulturpolitik und ihre Grenzen

Unser Gespräch führt uns zu den Herausforderungen einer Kulturpolitik, die oft nur als Finanzpolitik verstanden wird. Ohne inhaltliche Anerkennung bleiben Potenziale ungenutzt. Kultur wird zu einem Kostenfaktor reduziert – dabei braucht sie Freiräume, in denen Experimente erlaubt sind, Räume, in denen Fehler passieren dürfen. Doch in vielen Städten fehlt genau dieser Mut.

Der Weg ins Museum für Kommunikation

Nach seinem Studium will Christian ein Volontariat am Stadtmuseum Rüsselsheim absolvieren – doch es gibt keine Möglichkeit. Er geht nach Nürnberg ins Museum für Kommunikation. Die Pandemie trifft ihn dort in einer ohnehin schwierigen Phase. Die gewohnten Strukturen brechen weg, soziale Kontakte sind auf ein Minimum reduziert. Doch gerade in solchen Momenten wird Kreativität zum Überlebenswerkzeug.

Gemeinsam mit Volontär:innen der Museen für Kommunikation in Frankfurt und Berlin entwickelt er ein Konzept für einen Podcast: VOLOMUPO (Volontariatsmuseumspodcast). Ein Format, das jungen Museumsmacher:innen eine Stimme gibt, in einer Zeit, in der Museen mehr denn je nach neuen Formen der Vermittlung suchen.

Zurück nach Rüsselsheim – von der Performance zum Podcast

Zurück in Rüsselsheim zieht es ihn in den freiraum f3. Seine erste Residenz dort wird zu einer Experimentierphase. Er nähert sich der Kunst über die Performance, setzt sich mit häuslicher Gewalt auseinander, reflektiert über mentale Gesundheit und Depressionen, gibt sehr persönliche Einblicke. Er schafft Räume, die unangenehm, ehrlich und notwendig sind. Räume, die nicht nur ihm, sondern auch dem Publikum eine Auseinandersetzung abverlangen.

Doch der Gedanke an einen Podcast lässt ihn nicht los. Er tauscht sich immer öfter mit Stella Lorenz aus, und gemeinsam entwickeln sie Steilzeit – einen Podcast über Kultur, Stadtentwicklung und Gesellschaft in Rüsselsheim, inzwischen in der dritten Staffel. Eine Plattform, die Gespräche öffnet, die Geschichten erzählt, die die Stadt aus der Perspektive derer zeigt, die sie aktiv mit gestalten.

Das BEL R! Festival und ein neuer Verein

Währenddessen wächst eine weitere Idee: Drei Leerstände in Kunsträume verwandeln. Eine Galerie, eine Bühne, ein Ideenhub – so war es im Rahmen des Projekts Zukunft Innenstadt geplant. Doch schnell wird klar, dass es größer gedacht werden muss.

Das Ergebnis ist das BEL R! Festival, ein interdisziplinäres Format mit mehrtägigem Programm, das Musik, Kunst und Dialog zusammenbringt. Doch ein Festival braucht ein Zuhause. Aus dem Organisationsteam heraus entsteht der Verein sturmfrei – ein Netzwerk, das Kunst und Kultur in Rüsselsheim langfristig verankern will. Das Festival geht in die dritte Runde, wächst und verändert sich.

Christian versteht sich als Kulturnetzwerker, als Vermittler zwischen den kreativen Kräften der Stadt. Für ihn liegt die Zukunft in übergreifenden Kunsträumen, in denen nicht nur Kultur konsumiert, sondern aktiv gestaltet wird. Er betont: Der Diskurs ist nicht nur Begleiterscheinung – er ist die Möglichkeit, eine Stadt mitzugestalten.

Ein Spaziergang, der nachhallt

Nach dem Gespräch schlägt Christian vor, noch ein Stück am Wall entlangzulaufen, durch den Festungsgraben, der in der Nachmittagssonne leuchtet. Während wir gehen, merke ich, wie viel Raum es noch gibt für Worte, für Themen, die besprochen werden müssen, für Gedanken, die uns noch länger begleiten werden. Ich beobachte ihn, sehe, wie er sich über jede Nische dieses Geländes in epischer Breite äußern könnte – mit einer Mischung aus Wissen, Leidenschaft und dieser tiefen Verbundenheit zur Stadt. Ich erinnere mich an den schüchternen Jungen, der mir damals geschrieben hat, um sich über die Artmap zu informieren. Heute trägt er seine Begeisterung offen, sein Tatendrang ist ansteckend.

Zurück im Hof begegnen wir einer Mitarbeiterin des Museums, die gerade ihren Feierabend beginnt. Sie bleibt kurz stehen, freut sich, Christian wiederzusehen – es sind diese Begegnungen, die zeigen, dass Kultur mehr ist als Orte oder Institutionen, dass sie vor allem in den Menschen lebt, die sie gestalten. Ein paar Schritte weiter treffen wir Volker Dzimballa, den Pressefotografen, der gerade von einem Auftrag zurückkehrt. Ein kurzer Gruß, ein Austausch zwischen Momenten. Genau diese zufälligen Begegnungen, dieses unaufgeregte, selbstverständliche Miteinander, sind es, die mir bewusst machen, warum ich das hier tue. Warum es wichtig ist, über Kunst, Kultur und die Menschen dahinter zu sprechen. Und warum es so viel gibt, das noch erzählt werden muss.

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