EUROPA BRUNNEN

Europa – Eine Liebesgeschichte in Bronze

Die Geschichte Europas beginnt mit einer Entführung – zumindest, wenn man der griechischen Mythologie folgt. Zeus, der Göttervater, verwandelt sich in einen prächtigen Stier, um sich vor seiner eifersüchtigen Frau Hera zu verbergen und gleichzeitig die schöne Europa zu gewinnen. Er trägt sie auf seinem Rücken über das Meer nach Kreta, wo sie gemeinsam drei Söhne bekommen: Minos, Rhadamanthys und Sarpedon. Diese Legende ist nicht nur die Namensgeberin unseres Kontinents, sondern auch eine Geschichte über Verwandlung, Neuanfang und die Vermischung von Kulturen – ein Motiv, das auch heute noch eine ganz eigene Bedeutung hat.

Der Europabrunnen in Rüsselsheim

Mitten in Rüsselsheim erinnert seit 1980 der Europabrunnen an diese mythische Erzählung. Gestaltet vom Bildhauer Professor Gernot Rumpf, gehört er zu den wenigen noch aktiven Brunnen der Stadt und ist besonders bei Kindern ein beliebter Spielplatz.

Die Skulpturengruppe des Brunnens besteht aus vier Bronzefiguren:

  • Zeus als Stier – das mächtige, zentrale Symbol der Geschichte.
  • Europa – dargestellt ohne Gesicht, was es den Besuchern ermöglicht, ihren eigenen Kopf auf den Torso zu legen und so Teil der Erzählung zu werden.
  • Eine Eule – als weiser Beobachter der Szene.
  • Eine kleine Maus – das unscheinbare, aber allgegenwärtige Markenzeichen des Künstlers, das all seine Werke ziert.

Europa als Sinnbild für Rüsselsheim

Der Europabrunnen steht nicht nur für eine alte Sage, sondern spiegelt auch die Realität vieler Menschen wider, die sich in Rüsselsheim ein neues Leben aufgebaut haben. Seit Jahrzehnten ist die Stadt ein Ankunftsort für Menschen aus aller Welt – Arbeiter, Flüchtlinge, Suchende und Hoffende. Sie alle haben ihre Geschichten mitgebracht, ihre Träume und Erinnerungen. Genau wie Europa in der Mythologie verschleppt wurde und an einem neuen Ort ein Zuhause fand, haben auch viele Migranten hier ihre neue Heimat gefunden.

Doch die Geschichte Europas ist nicht nur eine Geschichte von Migration, sondern auch eine von Identität. Wer sind wir, wenn wir unseren Geburtsort verlassen? Können wir mehrere Kulturen in uns tragen? Die gesichtslose Figur der Europa erlaubt es jedem, sich selbst in die Skulptur hineinzudenken – eine Einladung zur Reflexion, was es bedeutet, Teil Europas zu sein.

Ein Brunnen, der mehr als nur Wasser spendet

In Zeiten, in denen Europa oft als ein Konstrukt aus Bürokratie, Krisen und politischen Differenzen wahrgenommen wird, erinnert der Europabrunnen daran, dass Europa eine Idee ist. Eine Idee von Gemeinschaft, von Begegnung, von Vermischung und Austausch. Vielleicht ist es gerade in einer Stadt wie Rüsselsheim, mit ihrer langen Geschichte der Migration, wo dieser Brunnen eine ganz besondere Bedeutung bekommt – als ein Ort, der spielerisch und doch tiefgründig daran erinnert, was es heißt, ein Teil von Europa zu sein.


Quellen und Literatur

Europa – Ein Brunnen als Denkmal und Vision

„Der einfache Betrachter sieht hier einen Stier […] und ist zufrieden. Der andere sieht ebenfalls diesen Stier und erkennt gleichzeitig die mythologischen Hintergründe sowie deren Bezug zu unserer Zeit.“ – Professor Gernot Rumpf, bei der Einweihung des Europabrunnens am 3. September 1980

Mit diesen Worten beschreibt der Bildhauer Gernot Rumpf die Ambivalenz seines Kunstwerks: Es ist sowohl eine greifbare, spielerische Skulptur als auch eine tiefsinnige Darstellung von Mythologie, Stadtgeschichte und europäischem Gedanken. Der Europabrunnen kann vieles bedeuten – eine Reflexion darüber, wie sich die Menschen in Rüsselsheim mit ihrer Stadt und Europa verbinden.

Ein Kunstwerk im Herzen der Stadt

Der Europabrunnen erstreckt sich auf einer Fläche von 5,5 x 3 Metern (vgl. Kulturgegenstände 1992) und liegt zentral auf dem Europaplatz in der Innenstadt. Er entstand als Ergebnis einer städtischen Ausschreibung aus dem Jahr 1978, die Rumpf für sich entschied. Der Künstler, geboren 1941 in Kaiserslautern, gehört zu den prägenden Bildhauern des Rhein-Main-Gebiets, wobei er auch international Werke in Tokio oder Jerusalem schuf (vgl. Otto 1988, 251).

Die Figuren des Brunnens

Die Bronzeskulpturen des Brunnens, gefertigt in der renommierten Gießerei Karl Casper in Remchingen-Nöttingen, bestehen aus vier Elementen:

  • Zeus als Stier: Die zentrale Figur, die mit drei Hörnerpaaren aus einer Erhebung herausbricht und in regelmäßigen Abständen Wasser aus seinen Nüstern schnaubt.
  • Europa: Eine gesichtslose Frauenfigur, deren Form es ermöglicht, dass Betrachter ihre Köpfe auf den Torso auflegen – eine Einladung, Europa ihr eigenes Gesicht zu geben.
  • Die Eule: Eine Figur mit menschlichem Antlitz, die Athene symbolisiert – die Göttin der Weisheit und der Stadt Athen.
  • Die Maus: Eine kleine, unscheinbare Figur, die sich scheinbar vom Brunnen entfernt. Sie ist das Markenzeichen des Künstlers und in all seinen Werken zu finden.

Die Mythologie hinter dem Brunnen

Die Skulpturengruppe erzählt die Geschichte von Europa und Zeus. Der Göttervater Zeus verwandelte sich in einen Stier, um Europa, die phönizische Königstochter, zu täuschen. Er entführte sie auf seinen Rücken und brachte sie nach Kreta, wo sie drei Söhne gebar – ein Mythos, der sinnbildlich für Migration, Identität und Transformation steht (vgl. Heldmann 2016).

Ein Denkmal im europäischen Kontext

Die Einweihung des Europabrunnens fiel in eine Zeit des politischen Umbruchs. In den 1970er-Jahren wuchs die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG), mit neuen Mitgliedern wie Dänemark, Irland und Großbritannien. Gleichzeitig begann der Prozess der Demokratisierung in Südeuropa mit dem Ende der Diktaturen in Portugal, Spanien und Griechenland. 1979 fanden erstmals Wahlen zum Europäischen Parlament statt (vgl. Europäische Union).

Vor diesem Hintergrund sollte der Brunnen nicht nur ein Kunstwerk sein, sondern ein Symbol für den europäischen Gedanken. Oberbürgermeister Dr. Karl-Heinz Storsberg betonte in seiner Einweihungsrede, dass es nicht um eine bloße Verschönerung der Stadtlandschaft ging, sondern darum, Europa auch im öffentlichen Raum sichtbar zu machen.

Ein Denkmal zum Mitmachen

Der Künstler Gernot Rumpf selbst sah den Europabrunnen als „Mitmachdenkmal“, das die Betrachter einlädt, sich mit Europa zu identifizieren und ihm wörtlich ihr Gesicht zu verleihen. Das Kunstwerk lehrt nicht nur Geschichte, sondern fordert zur aktiven Auseinandersetzung auf – eine Idee, die gerade in einer Stadt wie Rüsselsheim, die von Migration geprägt ist, eine besondere Bedeutung bekommt.

Europa zwischen Hoffnung und Realität

Heute, in Zeiten von Brexit, Nationalismus und politischen Spaltungen, hat sich der europäische Diskurs verändert. Während der Brunnen zur Zeit seiner Entstehung ein Denkmal der Hoffnung und des Zusammenwachsens war, spiegelt er heute auch die Spannungen und Herausforderungen Europas wider. Er bleibt ein Zeugnis für die gesellschaftspolitischen Stimmungen jener Zeit – und vielleicht auch eine Erinnerung daran, dass Europa mehr als ein politisches Projekt ist. Es ist eine Idee, die Menschen verbindet.


Quellen und Literatur

  • Europäische Union: Die Geschichte der Europäischen Union [11.09.2018].
  • Heldmann, Konrad (2016): Europa und der Stier oder der Brautraub des Zeus. Göttingen.
  • Otto, Rudolf (1981). Baukräne über Rüsselsheim: 25 Jahre Stadtentwicklung (1950–75). Rüsselsheim.
  • Otto, Rudolf (1988): Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim. Rüsselsheim.
  • Schmoll, Friedemann (2005): Denkmal. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte eines öffentlichen Erinnerungsmediums. Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 47 (1–16).

Quellen (Stadtarchiv Rüsselsheim)

  • Ansprache von Oberbürgermeister Dr. Storsberg zur Einweihung des Europabrunnens am 03.09.1980.
  • Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994).
  • Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 04.09.1980: Wer Lust dazu hat, kann als „Europa“ posieren.
  • Rüsselsheimer Echo vom 04.09.1980: Der Stier, Dame Europa und die Eule.
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