DER LESENDE


Die Stadtbücherei – Mein Tor zur Welt

Lesen und Schreiben waren schon immer fester Bestandteil meines Lebens. Doch angefangen hat alles an einem ganz bestimmten Ort: der Stadtbücherei. Es war in der zweiten Klasse, als ich mit meiner Schulklasse einen Ausflug dorthin machte. An diesem Tag bekam ich meinen ersten Leih-Ausweis – damals noch mit einer Schreibmaschine getippt. Ein kleines Stück Papier, das für mich das Tor zu unzähligen Welten, Geschichten und Ideen öffnete.

Ich war ständig dort. Fast täglich zog es mich in die Bibliothek, durchstöberte Regale, versank in Geschichten und verlor mich zwischen den Seiten. Meist blieb ich, bis die vertraute Durchsage erklang: „Die Bücherei schließt in Kürze.“ Dann wusste ich, dass ich meine Bücher nehmen und nach Hause gehen musste. Aber nicht ohne Vorfreude auf den nächsten Besuch.

Die Bücherei als Anfang vieler Reisen

Als ich mit der Artmap begann, führte mich meine erste Recherche wieder genau dorthin – zurück in die Stadtbücherei. Der Ort, an dem meine Liebe zu Geschichten begann, wurde auch der Ausgangspunkt meiner künstlerischen Reise. Es ist fast ironisch, dass ich später selbst Bücher schreiben würde, obwohl ich nie ein klassischer Schriftsteller werden wollte. Doch meine Kreativität fand ihren Weg – durch Fotografie, durch Kunst, durch Worte.

2015 veröffentlichte ich meinen ersten Bildband: „Roots of Liberty“. Dieses Jahr erscheint meine neue Erzählung: „Die Farbe der verlorenen Erinnerungen“. All das, was ich einst in den Regalen der Bücherei suchte, habe ich auf meine eigene Weise weitergegeben.

Ein stiller Beobachter im Grünen

Fast so, als würde er die Besucher der Bücherei daran erinnern, dass Lesen mehr ist als nur der Blick auf Worte, steht ein Kunstwerk dort, verborgen im Grünen: eine Skulptur des Darmstädter Künstlers Hermann Tomada aus dem Jahr 1963.

Die Skulptur ist eine abstrakte Plastik aus miteinander verschweißten Kupferplatten, die wie eine Vollplastik wirkt. Eine ungewöhnliche Arbeit für Tomada, der eigentlich für eine noch abstraktere Formensprache bekannt ist.

Wie der Sohn in der Geschichte vom Schmöker

Wenn ich an meine Zeit in der Bücherei denke, muss ich immer an die Bildergeschichte „Der Schmöker“ von E. O. Plauen denken. Der Junge in der Geschichte versinkt so tief in seine Bücher, dass er die Welt um sich herum vergisst – genau wie ich damals.

Oft saß ich dort, von morgens bis abends, vertieft in Geschichten, die mich an andere Orte brachten. Ich ging erst nach Hause, wenn die Lichter angingen und die Regale langsam leerer wurden. Eine schöne Zeit, die mich für immer geprägt hat.

Der „Lesende“ – Eine abstrakte Kupferplastik vor der Stadtbücherei

Bei dem Lesenden handelt es sich um eine 2,10 Meter hohe Kupferplastik, die vor der Rüsselsheimer Stadtbücherei steht. Sie wurde in den frühen 1960er-Jahren von Hermann Tomada gestaltet. Die abstrakte Figur zeigt einen Mann, der in einem Buch liest, und besteht aus mehreren verschweißten Kupferplatten.

Ursprünglich war die Skulptur vor der Bücherei auf dem Gelände der Max-Planck-Schule platziert. In den 1980er-Jahren zog sie jedoch gemeinsam mit der Bibliothek in den heutigen Standort im „Treff“ um (vgl. Otto 1988, 66f).

Die Geschichte hinter der Skulptur

Die Informationen über diese Skulptur sind rar und entstammen fast ausschließlich den Werken von Rudolf Otto (Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim, 1988) sowie dem Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994). Diese beiden Quellen sind die einzigen, die detailliertere Angaben enthalten.

Laut Denkmalkataster wurde die Plastik 1963 von der Stadt Rüsselsheim für 15.000 Mark erworben. In Ottos Werk findet sich jedoch eine widersprüchliche Datierung – es wird sowohl das Jahr 1963 (Otto 1988, 66) als auch 1962 (ebd., 260) genannt. Wahrscheinlich erfolgte die Aufstellung 1963, als die Stadtbücherei von der Stadthalle zur Max-Planck-Schule umzog.

Leider gibt es auch in der Stadtbücherei Rüsselsheim selbst keine weiteren Unterlagen oder Informationen zur Skulptur, wie eine Nachfrage ergab.

Der Künstler: Hermann Tomada

Hermann Tomada (1907–1990) war ein Darmstädter Künstler, der seit 1949 insbesondere als Bildhauer aktiv war. Sein umfangreiches Werk umfasst Kunstwerke an fast 50 verschiedenen Orten und über 90 Kunstausstellungen. Auch in Rüsselsheim gibt es neben dem „Lesenden“ weitere Werke von ihm – darunter ein Standbild und mehrere Reliefs (vgl. Otto 1988, 260).

Veränderte Handhaltung des Lesenden

Ein interessantes Detail lässt sich aus verschiedenen Bildquellen erschließen: Vergleicht man Fotos aus Ottos Werk, dem Denkmalkataster und der Artmap, fällt auf, dass sich im Laufe der Jahre die Handhaltung der Plastik verändert hat.

  • Ursprünglich hielt die Figur das Buch hoch, den Blick tief in die Seiten gesenkt, ganz in die Lektüre vertieft.
  • Auf neueren Aufnahmen sind die Arme und das Buch gesenkt, der Blick geht nun über das Buch hinweg.

Wie es zu dieser Veränderung kam, ist unklar. Sicher ist nur, dass sie nach dem Umzug der Skulptur an ihren neuen Standort erfolgte, da alle Bilder mit der neuen Handhaltung erst dort aufgenommen wurden.

Der Lesende heute

Die jüngste Aufnahme der Skulptur stammt aus dem Januar 2019. Sie zeigt den Lesenden mit einer farbenfrohen Wollmütze, die ihm wohl für die kalten Wintertage aufgesetzt wurde. In seinem unscheinbaren Platz im Grünstreifen vor der Stadtbücherei zieht er damit zumindest temporär Aufmerksamkeit auf sich.

So erfüllt sich auch heute noch Hermann Tomadas Hoffnung, dass „seine abstrakten Schöpfungen zur Zwiesprache zwischen Mensch und Künstler führen können“ (Otto 1988, 66) – wenn auch möglicherweise in einem anderen Sinne, als er es ursprünglich gedacht hatte.


Quellen und Literatur

  • Text: Carina Kühn & Aaron Hock
  • Foto: Michael Simon

Literatur:

  • Artmap. http://artmap.kreativnoma.de [15. September 2018]
  • Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994). Kulturgegenstände der Stadt Rüsselsheim. Manuskript. Rüsselsheim (Stadtverwaltung).
  • Otto, Rudolf (1988). Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim. Rüsselsheim.
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