
Chausseehaus Rüsselsheim – Vom Gasthaus zum Offspace und zurück
Manchmal sind es Zufälle, die eine Geschichte ins Rollen bringen. 2018 gab ich ein Interview in der Main-Spitze, und auf die Abschlussfrage nach meinen Plänen antwortete ich, dass ich auf der Suche nach einem neuen Atelier sei. Wenige Tage später landete eine E-Mail in meinem Postfach – von Holger Graecman, einem Architekten aus Rüsselsheim. Er stellte den Kontakt zu Alexander Hoebig her, der mit der Revitalisierung des F-Baus im Altwerk bereits eindrucksvolle Spuren hinterlassen hatte.
Ich schaute mir Flächen im F-Bau an, fand aber nicht das, wonach ich suchte. Doch aus dieser Begegnung entstand eine viel größere Idee: die Wiederbelebung des Chausseehauses.
Ein Haus mit Geschichte
Das Chausseehaus steht in der Darmstädter Straße, direkt angrenzend an den F-Bau. Ursprünglich war es ein Bauernhaus, das 1887 errichtet wurde. 1913 wurde es dann vom Sohn des Landwirten zu einem Gasthaus umgebaut, das jahrzehntelang Reisende, Arbeiter und Nachtschwärmer bewirtete.
Während des Zweiten Weltkriegs fiel es den verheerenden Bombennächten zum Opfer, doch 1945 wurde es mit dem Willen zum Wiederaufbau erneut errichtet. Bis in die frühen 90er Jahre blieb es als Kneipe in Betrieb, bevor es in einen Dornröschenschlaf fiel.
Trotz seines Namens war das Chausseehaus nie ein offizielles Chausseehaus. Historisch gesehen dienten Chausseehäuser dazu, Maut- und Kontrollstationen an wichtigen Straßenverbindungen zu betreiben. Sie standen entlang der Landstraßen und dienten dazu, Wegezölle einzunehmen und Reisende zu registrieren – vergleichbar mit einer Mischung aus Mautstelle und Rasthof. In Frankreich gibt es noch einige dieser historischen Stationen, aber unser Chausseehaus war etwas anderes: ein sozialer Knotenpunkt für die Stadt.
Vom Gasthaus zum Offspace
Gemeinsam mit Alexander Hoebig nahm ich 2019 die Herausforderung an, das Chausseehaus in neuem Glanz erstrahlen zu lassen. Nur sechs Monate dauerte die Sanierung, und dabei steckte ich nicht nur auf der Baustelle, sondern auch in die Inneneinrichtung all mein Herzblut. Ich durchforstete Flohmärkte, Lagerhallen und Kleinanzeigen, um Möbel und Dekoration aus den 50er- und 60er-Jahren zu sammeln – der Blütezeit des Chausseehauses.
Das Highlight? Eine Siebträgermaschine von 1961, die mehr Geschichte auf dem Buckel hatte als so manche Barista-Karriere. Kaffee war also nicht nur Kaffee, sondern eine kleine Zeitreise.
Das Soundsystem? Nicht weniger beeindruckend. Ich entschied mich für ein Funktion-One-Soundsystem, um den Raum klanglich in eine andere Dimension zu versetzen – klar, druckvoll, körperlich spürbar.
Die Mühe zahlte sich aus: Das Chausseehaus wurde in kürzester Zeit zum kreativen Schmelztiegel.
Lesungen, Partys, Ausstellungen – ein Experimentierfeld für Kreative
Das Chausseehaus wurde nicht einfach nur ein Veranstaltungsort, sondern ein lebendiger Organismus, ein Raum, in dem Kultur atmete, wuchs und sich in alle Richtungen entfaltete. Lesungen verwandelten sich in tiefgehende Gespräche, die weit über den Abend hinaus nachhallten. Konzerte begannen mit sanften Gitarrenklängen und endeten in wilden, euphorischen Nächten. DJs ließen ihre Platten kreisen, und die Bässe des Funktion-One-Soundsystems schienen durch die alten Mauern zu pulsieren, als wollten sie die Geschichte des Hauses neu schreiben. Künstler:innen stellten ihre Werke aus, ließen Besucher:innen Teil ihres kreativen Prozesses werden und fanden im Chausseehaus eine Bühne, die keine Genre-Grenzen kannte. Hier gab es keine festen Abläufe, keine vorgefertigten Konzepte – nur das Machen, das Entstehen, das Erleben.






Das Chausseehaus wurde zu einem kleinen pulsierenden Treffpunkt für Musik, Kunst und Kultur. Die Papierfliegerbande brachte mit ihren energiegeladenen Sets die Luft zum Vibrieren, während Who Killed Janis mit ihren verzerrten Gitarren den Raum zum Beben brachte. Die Wände erzählten ihre eigenen Geschichten – unter anderem durch die Werke von Clemens Heidolf, die das Chausseehaus für eine Weile in eine Galerie verwandelten. Auch die Nächte waren voller Magie: DJs wie Matthias Vogt, DJ Vargas, DJ Phil the Gap, Martin Reichmann und die Funkfreaks aus Frankfurt sorgten für tanzende Körper und eine schweißgetränkte Atmosphäre. Ein besonderes Highlight war die Afterparty zum Love Family Park, die nicht nur legendär wurde, sondern das Chausseehaus zur Subkultur machte.
Während der gesamten Entstehungsphase führte ich einen Blog, in dem ich die Fortschritte der Sanierung dokumentierte. Was ich nicht erwartet hatte: Die Resonanz aus der Stadt war überwältigend. Plötzlich erreichten mich Nachrichten von Menschen, die Erinnerungen an das Chausseehaus hatten, Geschichten von alten Zeiten, Bildmaterial, das sonst in Archiven verstaubt wäre. Peter Emig, Manfred Powalka, Jürgen Pawolka, Familie Rein, Familie Wohlfahrt, Fritz Schmidt jr., Thomas Renker, Meinhard Wicht, Robert Krupka, u.v.m. – sie alle trugen mit ihren Erzählungen, ihrer Hilfe und Unterstützung dazu bei, dass das Chausseehaus nicht nur ein physischer Ort wurde, sondern ein Stück gelebte Geschichte.














Eine besondere Begegnung bleibt mir bis heute im Gedächtnis: Heidrun Körber schrieb mir eine Nachricht und erzählte mir von einem alten Foto, das sie mir gerne überlassen würde. Sie ist die Urenkelin von Jakob Sittmann, dem ehemaligen Bürgermeister von Rüsselsheim (1922–1933), der im Backsteinhaus gegenüber dem Chausseehaus in der Bürgermeisterei ansässig war. Das Bild zeigte eine Doppelhochzeit am 29. November 1947 im Chausseehaus. Eine Nachkriegszeit-Hochzeit, in der das Gedeck von Zuhause mitgebracht werden musste – eine Geste der Bescheidenheit und Gemeinschaft. Das Hochzeitsessen? Pferdegulasch – ein Festmahl in einer Zeit, in der Luxus ein Fremdwort war.

Für mich hatte dieses Bild eine tiefere Bedeutung. Nicht nur, weil es das Chausseehaus in einer anderen Zeit zeigte, sondern weil es eine Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart schlug. Und als hätte sich ein Kreis geschlossen, war die letzte Veranstaltung vor Corona eine Hochzeitsgesellschaft, für die ich noch einmal in der Küche stand. Ohne zu wissen, dass es das letzte Mal sein würde.
Ein Abschied mit schwerem Herzen
Doch dann kam März 2020. Die Welt stand still. Corona legte sich wie ein dunkler Schatten über alle Pläne, über ganze Existenzen. Was als pulsierender Ort begann, wurde plötzlich ein leerer Raum. Nach Monaten des Hoffens und Bangens musste ich im Herbst 2020 die Türen für immer schließen. Ich vermisse noch immer meine Stammgäste.
Heute ist das Gebäude eine Bürofläche – klinisch, zweckmäßig, ohne die Energie, die einst durch die Räume strömte.
Aber für mich bleibt es mehr als das – ein Kapitel voller Ideen, Begegnungen und Leidenschaft. Und vielleicht, ganz vielleicht, inspiriert es irgendwann wieder jemanden, der auf der Suche nach einem neuen Atelier ist.



