
Der maschinenlesbare Mensch – Wendemaler und die Kritik am gläsernen Bürger
1985. Die Straßen von Rüsselsheim sind von industriellem Pulsschlag durchzogen, das Opel-Werk gibt den Takt an. Doch während sich unter den Maschinen die Zukunft formt, wachsen an den Fassaden Fragen heran – laut, sichtbar, unübersehbar. Eine davon trägt die Handschrift der Wendemaler.
An die Außenwand des ehemaligen Passamts malen sie ein überdimensioniertes Personalausweis-Mural, genannt Projekt Erika, benannt nach Erika Mustermann, der ikonischen Symbolfigur deutscher Ausweisdokumente. Der Ausweis ist ausgestellt auf Adam Opel. Ein Dokument, das ihn als Bürger ausweist – als jemand, der sich durch Zahlen, Scans und maschinenlesbare Codes definieren lässt.
Ein Name, eine Nummer, ein biometrischer Datensatz.
Doch wo bleibt der Mensch dahinter?
Maschinenlesbare Identität – Kritik in Farbe
Mit der Einführung des maschinenlesbaren Personalausweises (1980/81) wandelte sich das Bild des Bürgers. Ein Dokument, das nicht nur von Beamten, sondern auch von Computern erfasst, gespeichert und weiterverarbeitet werden konnte. Die Angst vor dem gläsernen Menschen wuchs – vor einer Gesellschaft, in der Identität nur noch ein Barcode im System ist.
Die Wendemaler fangen diese Kritik auf. Der von ihnen erschaffene Opel-Personalausweis ist mehr als eine ironische Hommage an den Stadtpatron – er ist eine Frage an die Zukunft:
Wann hören wir auf, Menschen zu sein, und werden bloß noch Datensätze?
Welche Maschinen lesen uns – und wer liest sie?
Das Passamt als Symbol
Das ehemalige Passamt – einst ein Ort, an dem Menschen ihre Identität auf Papier bestätigt bekamen – wurde durch das Mural selbst zum Kunstakt. Die Fassade wurde zum Dokument der Stadtgeschichte, zur Reflexionsfläche einer Gesellschaft, die sich zwischen Automatisierung und Individuum bewegt.
20 Jahre später, 2005, wurde der biometrische Personalausweis eingeführt. Doch das Mural der Wendemaler war nicht einfach übermalt oder entfernt worden. Stattdessen verschwand es still hinter dem Neubau des Nachbargrundstücks – unsichtbar gemacht, aber nicht ausgelöscht. Eine beinahe symbolische Parallele zum Thema selbst: Informationen verschwinden nicht, sie werden nur verdeckt.
Das Passamt als Institution hat inzwischen seinen Platz gewechselt: Heute findet es sich als Stadtbüro im Neubau am Friedensplatz in der Frankfurter Straße. Die Identität der Menschen bleibt weiterhin erfasst, digitalisiert, verwaltet. Doch die Fragen, die die Wendemaler 1985 an die Wand brachten, bleiben bis heute aktuell.
Maschinen lesen Daten. Aber wer liest die Maschinen?
Ich erinnere mich noch gut an den Perso. Mit meinen sechs Jahren nahm mich mein Vater oder mein Onkel samstags gelegentlich mit zum Einkaufen. Direkt neben dem Passamt gab es einen kleinen marokkanischen Lebensmittelladen, der für mich immer etwas Magisches hatte. Dort bekamen wir Dinge aus der “Heimat”, die ich sonst nur aus dem Urlaub kannte. Während wir Gewürze, Oliven oder Gebäck kauften, fiel mein Blick immer wieder auf das riesige Mural. Ich kannte die Daten fast mantraartig auswendig. Und wenn im Sachkundeunterricht die Frage kam, ob jemand wisse, wann Adam Opel geboren wurde, kam es wie aus der Pistole geschossen: 09.05.1937.