

Stolpersteine in Rüsselsheim
53 Pflastersteine im Format von 10 x 10 cm mit gravierten Messingschildern sowie eine Stolperschwelle erinnern im Stadtgebiet von Rüsselsheim an die Opfer des Nazi-Regimes und an mutige Menschen, die Widerstand leisteten und den Opfern zu helfen versuchten (Stand Mai 2020).
Seit 2007 gibt es dieses Projekt in Rüsselsheim. Die Stolpersteine sind über die ganze Stadt verteilt, doch keineswegs zufällig platziert: Jeder einzelne Stein erinnert genau dort an ein Opfer, wo es einst lebte, wo sich sein Wohnhaus oder Geschäft befand – wo es zuhause war.
Ein Zeichen gegen das Vergessen
Diese kleinen Gedenksteine sind mehr als nur eine Markierung im Stadtbild. Sie sind ein Zeichen gegen das Vergessen, ein Mahnmal, das sich nicht auf große Denkmäler beschränkt, sondern direkt im Alltag der Menschen sichtbar bleibt. Wer durch Rüsselsheim geht, begegnet ihnen auf dem Bürgersteig, zwischen den Straßen, vor Gebäuden – und stolpert vielleicht im übertragenen Sinne über ihre Bedeutung.
„Wenn du den Stein lesen willst, musst du eine kleine Verbeugung machen. Dann verbeugst du dich vor den Opfern.“
– Gunter Demnig, Künstler und Initiator der Stolperstein-Aktion
Stolpern als Moment des Innehaltens
Das Stolpern ist in diesem Fall nicht wörtlich gemeint, sondern als ein Moment des Innehaltens. Es soll dazu anregen, sich zu erinnern und nachzudenken. Wer stehen bleibt und den Namen auf dem Stein liest, gibt dem Menschen, dessen Name dort verewigt ist, für einen kurzen Moment seinen Platz in der Geschichte zurück.
Rüsselsheim folgt mit diesem Projekt einer Bewegung, die sich über viele Städte und Länder erstreckt. Die **Stolpersteine sind das größte dezentrale Mahnmal der Welt**. Sie erinnern an Menschen, die entrechtet, verfolgt und ermordet wurden. Sie stehen aber auch für diejenigen, die sich widersetzt haben – für Menschen, die Mut bewiesen, als es am schwierigsten war.
Der Einsatz für diese Erinnerung ist nicht selbstverständlich, und so sind es oft lokale Initiativen, Schulen und engagierte Bürgerinnen und Bürger, die sich für die Verlegung neuer Steine starkmachen. Denn jede dieser Erinnerungen ist eine Mahnung, dass sich Geschichte nicht wiederholen darf.
Stolpersteine in Rüsselsheim
„HIER WOHNTE“ – es folgen Name, Geburtsdatum, Martyrium und Schicksal eines Opfers der NS-Zeit. Zigtausendfach wird in Deutschland sowie in 21 weiteren europäischen Ländern die Geschichte betroffener Menschen auf kleinen Pflastersteinen im öffentlichen Raum erzählt – und individuell erinnert.
54-mal zeugen auch im Stadtgebiet von Rüsselsheim solche Stolpersteine von den Gräueltaten der Nazizeit. In den meisten Fällen wurden sie direkt vor der letzten frei gewählten Wohnung der gedachten Opfer in den Boden eingelassen. Verantwortlich für die Verlegung ist eine lokale Initiative, die seit 2007 in Rüsselsheim aktiv ist.
Ein Projekt mit langer Geschichte
Initiator des Projekts ist der Berliner Künstler Gunter Demnig (geb. 1947). Sein politisiertes Heranwachsen im Berlin der 1960er-Jahre prägte ihn und seine Arbeit. Bereits 1990 erinnerte er in Köln mit einer künstlerischen Intervention an die Deportation von 1.000 Sinti und Roma. Am 16. Dezember 1992 verlegte er vor dem Historischen Rathaus der Stadt Köln einen ersten Stein mit einer Messingplatte, die den sogenannten Auschwitz-Erlass von Heinrich Himmler zitierte – und nannte ihn Stolperstein.
Eine offizielle Genehmigung der Stadt für diese Verlegung gab es damals nicht. Doch das Projekt gewann an Bedeutung: Heute existiert die „Stiftung – Spuren – Gunter Demnig“, die seit 2014 die Fortführung der Stolperstein-Verlegung koordiniert und langfristig sichert.
Dezentral und individuell
Jede Verlegung geschieht auf Initiative der Zivilgesellschaft. In Rüsselsheim kümmern sich engagierte Bürgerinnen und Bürger darum, die Schicksale der NS-Opfer zu recherchieren, Paten für die Finanzierung zu finden und Kooperationen mit Schulen zu etablieren. Seit 2016 gibt es hier auch eine Stolperschwelle, die an die 7.000 Zwangsarbeiter erinnert, die in den Opelwerken arbeiten mussten. Sie befindet sich vor dem Hauptportal des Opel-Altwerks.
Stolpersteine: Mahnmal und Diskussionsobjekt
Die Stolpersteine sind das größte dezentrale Mahnmal der Welt. Sie werden für alle NS-Opfergruppen verlegt. Doch lokal gibt es Unterschiede: In Rüsselsheim existieren verhältnismäßig wenige Steine für jüdische Opfer. Eine mögliche Erklärung liegt in der Geschichte der jüdischen Gemeinde: Viele versuchten, sich in der Anonymität benachbarter Großstädte zu verstecken.
Das Projekt bleibt nicht unumstritten. Kritiker werfen Demnig kommerzielle Interessen vor oder bemängeln die Inflationierung des Gedenkens. Andere empfinden die Texte auf den Steinen als zu nah am NS-Duktus. Besonders brisant ist die Kritik von Holocaust-Überlebenden wie Charlotte Knobloch, ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland, die darauf hinweist, dass auf diese Weise Menschen „erneut mit Füßen getreten“ würden.
„Wenn du den Stein lesen willst, musst du eine kleine Verbeugung machen. Dann verbeugst du dich vor den Opfern.“
– Gunter Demnig
Die Zukunft des Erinnerns
Das Stolperstein-Projekt entstand in einer Zeit des „regelrechten Denkmalbooms“ (Schmoll 2005). Es steht für die Demokratisierung und Dezentralisierung der Erinnerungskultur. Kritiker sprechen von „Entmonumentalisierung“, während Befürworter betonen, dass die Steine das Gedenken auf alltägliche, persönliche Weise in den öffentlichen Raum bringen.
In Rüsselsheim stehen die Stolpersteine nicht allein: Auch das „Mahnmal der Menschlichkeit“ für die 1944 gelynchten amerikanischen Piloten trägt ähnliche Züge. Es bleibt die Frage: Wie wollen wir erinnern? Das Stolperstein-Projekt fordert Bürgerinnen und Bürger heraus, sich mit der Geschichte ihrer Stadt auseinanderzusetzen – und das ist vielleicht seine wichtigste Aufgabe.
Literatur
- Assmann, Aleida (2013). Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München.
- Fischer, Norbert (2016). Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden.
- Lipp, Wilfried (2008). Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege. Wien.
- Museum der Stadt Rüsselsheim (Hg.) (1980). Juden in Rüsselsheim. Katalog zur Ausstellung. Rüsselsheim.
- Schmoll, Friedemann (2005). Denkmal. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte eines öffentlichen Erinnerungsmediums. Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 47, 1–16.
- Strojec, Rolf (Hg.) (2012). Rüsselsheim setzt Stolpersteine. Lebensläufe, Dokumente und Materialien zu Verfolgung und Widerstand 1933–1945. Rüsselsheim.
Quellen
- Stiftung – Spuren – Gunter Demnig [12.05.2020]
- Projekt Stolpersteine [12.05.2020]
- Stolpersteine Rüsselsheim [12.05.2020]
Text und Foto: Martin Koch
Weitere Informationen über die Initiative findest Du hier: Stolpersteine