DER BRIEF

Der Brief – Ein Kunstwerk, das Geschichte erzählt

In der Adolf-von-Menzel-Straße in Rüsselsheim hat Kunst erneut ihren Platz im öffentlichen Raum gefunden. Die Ostfassade der Wohnanlage wurde durch das Wandgemälde „Der Brief“ des Berliner Künstlerduos stoebo – bestehend aus Cisca Bogman und Oliver Störmer – in eine erzählerische Bildfläche verwandelt, die Vergangenheit und Gegenwart verbindet. Die Fassade wurde zur Leinwand für Erinnerungen, ein visuelles Puzzle aus Motiven, inspiriert von den Werken Adolph von Menzels.

DER BRIEF (2023), stoebo – Bogman & Störmer, (Foto © O. Störmer, VG Bild-Kunst, Bonn 2023)

Die flächigen Wandbilder erstrecken sich über mehrere Stockwerke und zeigen fragmentehafte Details, die den Geist Menzels einfangen, ohne seine Werke direkt zu kopieren: ein Vogel auf einem Ast, ein geöffnetes Fenster mit Blumentöpfen, ein Brief, den Hände festhalten, eine nachdenkliche Frau, ein benutzter Haarkamm, ein liegender Hund. Jedes dieser Bildelemente steht für sich, aber gemeinsam erschaffen sie eine visuelle Erzählung, die sich erst in der Wahrnehmung des Betrachters zu einer Geschichte fügt.

Adolph von Menzel – Inspiration und künstlerische Neuinterpretation

Adolph von Menzel gilt als einer der bedeutendsten deutschen Maler des 19. Jahrhunderts. Er war ein Meister des Detailreichtums, bekannt für seine atmosphärischen, oft narrativen Darstellungen von Alltagsszenen. Das Künstlerduo stoebo hat sich diesem Erbe auf ihre Weise angenähert. „Der Brief“ ist keine bloße Kopie, sondern eine moderne Neuinterpretation, eine Hommage an die visuelle Sprache Menzels in einer zeitgenössischen Ästhetik.

Die Wandgestaltung gibt keinen eindeutigen Handlungsstrang vor – vielmehr lädt sie dazu ein, eigene Assoziationen zu knüpfen, Verbindungen zwischen den einzelnen Elementen herzustellen und sich selbst eine Geschichte auszumalen. Damit wird das Kunstwerk zu einem offenen Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen dem Künstler, dem Ort und den Menschen, die hier leben.

Aufgewachsen im Malerviertel

Für mich hat dieser Ort eine besondere Bedeutung. Ich bin in der Lucas-Cranach-Straße 43 aufgewachsen und auf die Albrecht-Dürer-Schule gegangen. Das Malerviertel war mehr als eine Adresse – es war eine Welt, die mich als Kind geprägt hat. Fast täglich bin ich mit meinen Klassenkameraden durch diese Straßen gelaufen, nach der Schule bis zur Adolf-von-Menzel-Straße, bevor sich unsere Wege trennten. Die Namen der Straßen waren überall um mich herum, doch als Kind wusste ich nicht, was sie bedeuteten.

Neugierig geworden, zog es mich irgendwann in die Stadtbücherei, um mehr über die Menschen hinter den Straßennamen zu erfahren. Ich las über Lucas Cranach, Albrecht Dürer, Adolph von Menzel, lange bevor ich die Namen zeitgenössischer Künstler kannte. Diese frühen Begegnungen mit Kunst haben mich nie losgelassen. Hätte ich nicht im Malerviertel gelebt, wäre dieser Nucleus vielleicht nie so früh gesetzt worden. Doch die Namen auf den Straßenschildern wurden zu den ersten Kapiteln meiner eigenen Reise in die Kunst.

Die gewobau und ihre Verantwortung für Kunst im Malerviertel

Dass heute Kunst in der Adolf-von-Menzel-Straße präsent ist, ist kein Zufall. Die gewobau Rüsselsheim, die städtische Wohnungsbaugesellschaft, ist seit vielen Jahren verantwortlich für die Kunst am Bau im Malerviertel. Mit Projekten wie „Der Brief“ trägt sie dazu bei, dass nicht nur Wohnraum, sondern auch kulturelle Identität entsteht.

Die gewobau wurde 1950 gegründet und hat seither das Stadtbild mitgeprägt. Neben der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum verfolgt sie auch das Ziel, durch öffentliche Kunstprojekte eine höhere Lebensqualität in den Quartieren zu schaffen. Besonders im Malerviertel – einem Stadtteil, dessen Straßennamen eine Hommage an berühmte Künstler sind – wird diese Verbindung zwischen Wohnen und Kunst auf eine ganz besondere Weise spürbar.

Mit Kunstwerken wie dem Figurenensemble zu Hans Holbein oder der neuen Wandgestaltung in der Adolf-von-Menzel-Straße gibt die gewobau den Namen, die ich als Kind so oft gelesen habe, eine sichtbare Präsenz im Stadtraum. So wird das Malerviertel nicht nur ein Wohngebiet, sondern eine begehbare Galerie, ein Ort, an dem sich Geschichte und Gegenwart begegnen.

Kunst als Teil des Stadtraums

Mit „Der Brief“ wird Kunst wieder Teil des Alltags. Sie bleibt nicht hinter Museumsmauern verborgen, sondern ist für alle sichtbar, ob auf dem Schulweg, beim Spazieren oder vom Balkon aus. Eine Schautafel vor Ort gibt zusätzliche Informationen, aber letztlich bleibt es jedem selbst überlassen, was er darin sieht und welche Gedanken es auslöst.

So wie es bei mir damals war, als ich die Namen auf den Straßenschildern las und daraus meine eigenen Bilder formte.

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