
Die erste Arbeit der Wendemaler – Ein Zeitgeist, der bleibt
Rüsselsheim hat viele künstlerische Spuren im öffentlichen Raum, doch kaum eine Künstlergruppe hat das Stadtbild so geprägt wie die Wendemaler. Martin Kirchberger und Uwe Wenzel, die kreativen Köpfe hinter diesem Namen, schufen seit den frühen 1980er Jahren großflächige, oft humorvolle Wandgemälde, die Kunst und Gesellschaftskritik miteinander verbanden. Ihre erste Arbeit entstand 1983 in einer spontanen Aktion innerhalb einer Woche – ein Selbstporträt der beiden Künstler bei der Arbeit.
Die Außenwand eines Nebengebäudes des ehemaligen Kulturcafés neben dem Brauhaus wurde zur Leinwand. Damals ein beliebter Treffpunkt für Kulturschaffende, Musiker und Intellektuelle, bot das Kulturcafé die perfekte Umgebung für ein Werk, das sinnbildlich für den kreativen Aufbruch der 80er Jahre stand. Das Kunstwerk wurde über die Jahrzehnte vom Zahn der Zeit fast vollständig verschluckt – doch 2024 erweckte Uwe Wenzel es in aufwändiger Restaurationsarbeit wieder zu neuem Leben.

Martin Kirchberger – Kunst, Satire und ein tragisches Ende
Martin Kirchberger, eine der treibenden Kräfte der Wendemaler, war mehr als ein Maler – er war ein Multitalent: Filmemacher, Satiriker, Künstler. Seine Arbeiten waren durchzogen von einem feinsinnigen Humor und gleichzeitig von einem kritischen Blick auf die Gesellschaft. Besonders bekannt wurde er durch seine Filme, in denen er mit einer Mischung aus Ironie und dokumentarischem Ernst soziale Absurditäten entlarvte.
Doch das Schicksal meinte es nicht gut mit ihm: 1991 kam er bei einem tragischen Flugzeugabsturz ums Leben, als er mit seinem Filmteam einen Fallschirmsprung für eine Produktion inszenierte. Sein Film „Das Wunder von Wörgl“ wurde erst nach seinem Tod veröffentlicht und mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Der frühe Verlust Kirchbergers hinterließ eine spürbare Lücke in der kreativen Szene Rüsselsheims – doch seine Werke und sein Geist leben weiter.
Die Wendemaler als Spiegel der 80er Jahre
Für mich sind die Wendemaler mehr als nur eine Künstlergruppe – sie sind ein Zeitgeist, eingefangen in Farbe und Form. Ihre Werke atmen die Luft der experimentellen 80er Jahre, in denen Stonewashed-Jeans und die Neue Deutsche Welle auf eine Zeit trafen, die von ernsten Themen geprägt war: Tschernobyl, die Startbahn-West-Proteste, der Kalte Krieg.
Die Kunst der Wendemaler war nie nur Dekoration, sie kommentierte, provozierte und inspirierte. Kunst war in dieser Zeit nicht einfach ein schöner Zusatz im öffentlichen Raum, sondern ein Statement. Deshalb freut es mich besonders, dass 2024 die erste Arbeit der Wendemaler restauriert wurde – ein Stück Stadtgeschichte, das nicht verblassen soll.
“Wunder der Wirklichkeit” – Eine stille Hommage
Wenn man über Martin Kirchberger und die Wendemaler spricht, führt kein Weg an Thomas Frickels Dokumentarfilm „Wunder der Wirklichkeit“ vorbei. Der Film zeigt Kirchbergers Arbeiten, seinen Humor, seine Herangehensweise an das Medium Film und seinen unerwarteten Tod. Ich habe den Film bei einer Freiluftaufführung im Festungshof gesehen – und die andächtige Stille während der Vorstellung werde ich nie vergessen.
Diese Stille war kein Desinteresse, sondern das genaue Gegenteil: Es war Respekt. Kirchberger hat etwas hinterlassen, das nachwirkt, genau wie die Wandbilder der Wendemaler.
Kunst im öffentlichen Raum – Ein Manifest aus der digitalen Echokammer
Im Rahmen des Kultursommers veranstaltete ich eine Lesung im Chausseehaus, bei der ich mich intensiv mit der Wahrnehmung von Kunst im öffentlichen Raum auseinandersetzte. Dabei entstand ein Manifest, das fast ausschließlich aus Facebook-Kommentaren zu Kunstprojekten im Stadtraum bestand.
Die Aussagen reichten von ablehnend über zynisch bis hin zu vollkommen ignorant:
„Braucht doch kein Mensch, stellt lieber mehr Parkplätze hin.“
„Kunst? Das ist doch nur Geldverschwendung!“
„Früher war Opel die Identität dieser Stadt, heute sind es irgendwelche Skulpturen…“

Um das Manifest zu visualisieren, nahm ich unter anderem ein Foto der ersten Arbeit der Wendemaler – und entfernte digital die Kunst darauf. Zurück blieb eine bloße Wand, eine anonyme Oberfläche, der jegliche Geschichte und Bedeutung entzogen wurde. Das Bild wirkte plötzlich leer und beliebig – so, als wäre dort nie etwas gewesen.
Diese einfache Manipulation zeigte eindrücklich, wie sehr Kunst das Stadtbild prägt, oft ohne dass wir es bewusst wahrnehmen. Und doch gibt es Menschen, die sich erst dann damit auseinandersetzen, wenn sie infrage gestellt oder entfernt wird.
Die Diskussion darüber, was Kunst darf, soll oder muss, ist heute aktueller denn je. Darf Kunst politisch sein? Muss sie das überhaupt? Ich finde, sie muss nicht – aber sie kann. Die Wendemaler haben das gezeigt, und für mich sind sie deshalb eine der wichtigsten künstlerischen Stimmen, die Rüsselsheim je hatte.
Vielleicht wird eines Tages auch der Adam-Opel-Personalausweis wieder rekonstruiert, vielleicht findet die Karstadtfassade ihren Platz in der Stadtgeschichte zurück. Doch egal, was bleibt – die Wendemaler sind mehr als Wandbilder. Sie sind ein Denkmal des freien Denkens.
Wendemaler
ZEIG MIR DEN WEGManifest: Die Stadt aufräumen




1. Bildung im Wandel – Fortschritt oder Verfall?
Zu meiner Zeit war die Schule noch eine Zettelwirtschaft – heute wird sie zur „Panel“-Wirtschaft.
Doch was machen die Pennäler daraus, außer Pönalen für uns alle?
Die Digitalisierung schreitet voran, der Overheadprojektor wird abgeschafft, ersetzt durch Hochleistungs-Beamer.
Smarte Boards für eine Generation von Schülern, die von ihren Helikoptereltern in Warp-Geschwindigkeit durch die Schule gejagt werden.
Früher hieß es nach der 6. Stunde: „Geh heim!“
Heute heißt es: G9 – oder für die besonders schnellen G8!
Die Schulen werden MINT – und schmecken nur noch bitter.
Es gibt ohnehin zu wenig Lehrer, also warum nicht den überflüssigen „entarteten Kram“ gleich streichen?
Warum eine Menschensorte heranziehen, die dann aus Steuergeldern ihr Ego finanziert?
Wir haben doch schon genug davon.
Irgendwann ist dann doch mal gut!
Heißt ja schließlich PISA-Studie – und nicht Da-Vinci-Studie!
Deshalb Schluss damit – auch in den Schulen wird jetzt aufgeräumt!
2. Vom Opel-Mythos zur Motorworld
PSA regiert nun hier.
Aus Altwerk wird Motorworld.
Kultur und Kunst sagte man einst in einem Atemzug mit Opel.
Opel verschönerte nicht nur die Stadt, Opel verlieh ihr eine Identität.
Opel holte Menschen aus aller Herren Länder hierher.
Opel huldigte die Arbeit und den Arbeiter.
Opel setzte dem Arbeiter sogar während einer Einstellungskrise ein Denkmal.
Ein Schlaraffenland für Künstler:
Hier eine Skulptur, dort eine Wandmalerei.
Selbst aus Fabrikschrott wird Kunst.
Serienproduktion gibt es nicht nur am Band –
auch Skulpturen werden in allen Farben gefertigt und ausgeliefert.
Monumente aus Beton erinnern an Industriekultur und Erfolgsgeschichten.
Doch nun regiert PSA hier – und räumt endlich auf!
In Büros, an Standorten, an Arbeitsplätzen, an der Arbeit – und am Arbeiter.
Hätte man auch selber darauf kommen können:
Endlich wird auch der unnötigen Kunst der Garaus gemacht!
3. Die Frage nach dem historischen Erbe
Das historische Erbe soll unsere Identität definieren.
Interessante These – oder nicht?
Historische Gebäude, Bunker, Festungsanlagen – durch Zufall überstanden,
von der Stadtplanung der 50er Jahre verschont geblieben.
Nun sind sie Institutionen, deren Erhalt defizitär ist.
Verherrlichung des Krieges,
Kirchenfassaden maroder als der Glaube selbst.
Industrielle, verherrlicht von Künstlern,
die einst Demagogen ins rechte Licht rückten.
Die Résistance bekommt Steine im Pflaster.
Zeitzeugen gibt es ohnehin kaum noch –
und danach weiß doch niemand mehr, woran man sich erinnert.
Welche Gebäude werden dann in 50 Jahren historisch?
Leerstehende Mekkas des einstigen Konsums?
Oder gar Moscheen?
4. Kunst im öffentlichen Raum – Segen oder Plage?
Schon so eine Sache mit der Kunst…
Und eigentlich will das gar keiner…
Dafür gibt es doch das Internet.
5. Die Konsequenz: Aufräumen!
Tja… das möchte ich ändern.
Deshalb räume ich in meiner Stadt jetzt einfach auf!