
Die Spitzwegsäule – Kunst als Raum des Werdens
Die Sonne taucht die Szene in helles Licht, als die Spitzwegsäule von Miriam Lenk in der Spitzwegstraße enthüllt wird. Ein seltenes Ereignis. Kunst im öffentlichen Raum entsteht heute nicht mehr oft – und wenn doch, dann begleitet von langen Diskussionen über Kosten und Folgekosten, über Vandalismus und Verantwortlichkeiten. Dabei ist Kunst nicht das Problem. Kunst ist der Raum, in dem wir werden können.
Ich stehe vor der Skulptur, betrachte ihre Formen, ihre Bewegung. Sie ist monumental und gleichzeitig verspielt, ein barockes Spiel aus Volumen und Ornamenten, in dem sich die Welt Carl Spitzwegs auflöst und neu zusammensetzt. Figuren tauchen auf, wachsen in florale Ornamente hinein, werden Teil einer fließenden Komposition. Keine starre Hommage, sondern eine Collage aus Vergangenheit und Transformation.
Die Zeremonie – Kunst zwischen Wertschätzung und Kosten
Die Einweihung beginnt. Herr Regenstein, Geschäftsführer der gewobau, spricht über das Kunstprojekt, über die Bedeutung von Kunst in der Stadt, über das Malerviertel, das durch solche Werke kulturell bereichert wird. Auch Karl-Heinz Becker, erster Vorsitzender des Kunstvereins und Jurymitglied, betont die Einbindung der Anwohner, die Teil des Auswahlprozesses waren und die Qualität der Einsendungen.



Oberbürgermeister und Kulturdezernent Burghardt spricht unteranderem über die Kosten, über die Risiken, über den Vandalismus. Mehr subtile “Abers” als konkrete Möglichkeiten. Es ist dieser Blick auf Kunst, der so oft dominiert. Nicht als Wert, nicht als Identität, sondern als Belastung, als Ausgabe. Dabei ist Kunst kein Luxus, den man sich nur in guten Zeiten leisten kann. Sie ist Teil des Stadtraums, genauso wie Straßen, Plätze und Gebäude.
Und dann spricht Miriam Lenk selbst. Ihre Worte haben eine andere Qualität. Sie erzählt von der Entstehung, von ihrer Bewerbung, von ihrem Zugang zu Carl Spitzweg. Wie nähert man sich einem Künstler an, dessen Werke so tief im kollektiven Bildgedächtnis verankert sind?

Miriam Lenk – Kunst als Dialog im öffentlichen Raum
Lenk ist eine Künstlerin, die sich mit Weiblichkeit, Transformation und Bewegung auseinandersetzt. Ihre Werke sind oft monumental, opulent, fast barock, voller floraler und organischer Elemente. Sie hinterfragt Schönheitsideale, thematisiert Sinnlichkeit und Überfluss, spielt mit humorvollen Überzeichnungen.





Bekannte Werke von ihr sind:
Diven – monumentale Frauenfiguren mit überzeichneten Rundungen
Flora und Fauna – skulpturale Interpretationen von Natur und Wachstum
Die Venus von Willendorf reloaded – eine zeitgenössische Hommage an die berühmte prähistorische Figur
Doch in der Spitzwegsäule geht es um etwas anderes. Hier nähert sie sich einem Künstler, der für viele als Inbegriff des romantischen Biedermeiers gilt. Doch Carl Spitzweg (1808–1885) war mehr als nur ein Maler idyllischer Szenen.
Carl Spitzweg – Der feinsinnige Beobachter der kleinen Welten
Spitzweg malte das bürgerliche Leben mit feiner Ironie. Seine Figuren sind oft Eigenbrötler, Träumer, Menschen in ihrer eigenen Welt – liebevoll, aber mit einem Augenzwinkern dargestellt.
Der arme Poet – ein kauziger Dichter, der in seinem ärmlichen Dachzimmer dichtet
Der Bücherwurm – ein Gelehrter, der sich in seine Bücherwelt zurückzieht
Der Kaktusfreund – ein liebevoll ironisches Porträt eines Pflanzenliebhabers
Lenk greift diese Bildwelten auf, aber sie hält sie nicht fest. Sie dekonstruiert sie, verwandelt sie, lässt sie ineinanderfließen. Die Skulptur ist eine Collage aus Spitzwegs berühmtesten Werken und Lenks eigener Interpretation, ein Dialog zwischen Vergangenheit und Gegenwart.
Die Spitzwegsäule – Kunst als Prozess, nicht als Zustand
Wer genau hinschaut, erkennt, dass die Skulptur kein abgeschlossenes Werk ist. Sie ist eine Bewegung, ein Übergang, eine Transformation. Gilles Deleuze würde es ein Devenir nennen – ein ständiges Werden. Kunst ist hier kein festes Objekt mit einer einzigen Bedeutung, sondern ein Prozess. Formen winden sich, wachsen ineinander, lösen sich wieder auf.




Und doch bleibt das eigentliche Kunstwerk nicht nur die Skulptur selbst. Es ist der öffentliche Raum, in dem sie steht. Ein Raum, der nicht nur für Autos, Straßen und Beton existiert, sondern auch für Kunst, für Geschichten, für Identität. Ein Raum, der nicht exklusiven Galerien oder Kurator:innen gehört, sondern allen.
Die Sonne steht hoch, als die Zeremonie endet. Die Worte der Politik werden bald verhallen. Die Spitzwegsäule aber bleibt.
Ein seltenes Ereignis. Eine Erinnerung daran, dass Kunst im öffentlichen Raum nicht die Ausnahme sein sollte, sondern die Regel.