LILLY WIESNER

ARTSbesuch: Lilly Marie Wiesner

Zwischen Haltung, Heilung und der leisen Kraft künstlerischer Aufklärung

„Jeder Mensch ist ein Künstler.“

Joseph Beuys hat diesen Satz nicht als Floskel gemeint. Für ihn war es ein Aufruf – an uns alle. Er glaubte an die kreative Kraft des Einzelnen, an die Fähigkeit, durch schöpferisches Handeln die Gesellschaft zu gestalten.

Lilly ist für mich genau so ein Mensch. Nicht laut, nicht überheblich. Aber wach, empfindsam, klar in ihrer Haltung. Unsere erste bewusste Begegnung war während einer Residenz von Christian Bihn im f3 – als er andere einlud, als Gäste im Atelier selbst aktiv zu werden. Ich packte meine Malkiste, folgte dem Ruf – und entdeckte erste Arbeiten von Lilly.

Darin lag bereits, was ich später auch in ihr selbst entdecken durfte: eine unbedingte Aufrichtigkeit und das Bedürfnis, nicht nur Kunst zu machen – sondern Kunst sprechen zu lassen.

Ein Zuhause wie ein Archiv

Ich darf Lilly zu Hause in Rüsselsheim besuchen. Der Empfang ist herzlich, ihr Blick offen, ein wenig aufgeregt vielleicht. Die Wohnung fühlt sich an wie ein intimes Archiv ihrer selbst – zwischen Industrial Design und Nostalgie, zwischen Erinnerung und Experiment.

Wir nehmen am Esstisch Platz. Und sobald Lilly beginnt zu sprechen, wird klar: Ihre Themen sind keine Meinungen. Sie sind Überzeugungen, Fundamente, auf denen sie lebt und wirkt.

Verwurzelt und weitergedacht

Lilly ist in Nauheim aufgewachsen, doch Rüsselsheim war und ist ihr Lebensmittelpunkt. Schon als Kind besuchte sie Kunstkurse bei Kunst für Kids, experimentierte mit Materialien, stellte Fragen, wo andere noch malten. Sie tanzt bei der Ballettschule Riedel, wo sie heute noch tanzt. Besuchte die Kantschule – Orte, die ihr halfen, Ausdruck zu finden.

Praktika absolvierte sie an der Helen-Keller-Schule, einer Schule mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung. Dort wurde der Keim für ihren weiteren Weg gelegt.

Sie entschied sich für ein Studium der Inclusive Education an der Evangelischen Hochschule Darmstadt – ein Studiengang, der Pädagogik aus der Perspektive von Inklusion, Vielfalt und sozialer Gerechtigkeit denkt. Parallel machte sie ein Freiwilliges Soziales Jahr in der Villa Blau, einem Ort mit teilstationärer Betreuung und kreative Angebote für Menschen mit Beeinträchtigungen.

Lilly lernte dort nicht nur zu begleiten, sondern zuzuhören – und aus dem, was nicht gesagt wird, Bilder zu formen.

Dunkelziffer – wenn Kunst Sprache wird

Als sie 2023 im Rahmen ihrer Residenz im f3 das Projekt „Dunkelziffer“ entwickelte, war das kein Thema – es war eine Notwendigkeit.

Auslöser war die Blockade des damaligen Bundesjustizministers Marco Buschmann. Er hatte sich Anfang 2024 gegen eine entscheidende Passage im neuen EU-weiten Frauenschutzgesetz gestellt.

Der Vorschlag: Ein klares „Nur Ja heißt Ja“-Prinzip, das sexualisierte Gewalt als solche anerkennt, wenn es keine eindeutige Zustimmung gibt – wie es Spanien, Schweden und die Niederlande bereits umsetzen. Doch Buschmanns Widerstand führte dazu, dass Deutschland diesen Paragraphen nicht übernahm – obwohl das Gesetz im Juni 2024 in Kraft trat.

Ihre Wut verwandelte sie in Kunst. In Zeichnungen, Acrylmalereien, crossmediale Arbeiten. Sie begann, die Dunkelziffer sichtbar zu machen – die Zahl der Betroffenen, die keine Stimme haben, keine Statistik, kein Gehör.

Für Lilly ist das keine künstlerische Pose. Es ist Aufklärungsarbeit. Und es ist persönlich. Sie nennt sich Expertin in eigener Sache – eine Formulierung, die ihren Mut zeigt, das Private politisch zu machen, ohne sich auszustellen.

Eine Wiederkehr, ein Zeichen

Im Herbst kehrt sie zurück ins f3, mit einer weiteren Residenz. Ihre Themen bleiben unbequem – aber notwendig.

Lilly will Awareness schaffen. Vielleicht kann man sagen: ein achtsames Bewusstsein. Ein gesellschaftliches Spüren für Themen, die sonst im Schatten bleiben. Für Stimmen, die nicht laut sind, aber gehört werden müssen.

Sie schafft Räume, in denen Verletzlichkeit nicht Schwäche ist – sondern der Anfang von Veränderung.

Ein stilles Leuchten

Am Ende unseres Gesprächs frage ich sie nicht nach ihren künstlerischen Zielen. Weil ich spüre, dass sie bereits lebt, was viele sich nur vornehmen: Haltung, Verantwortung, Verbundenheit.

In Lillys Kunst liegt keine Antwort. Aber ein Leuchten. Und eine Frage an uns alle:

Wofür nutzt du deine Stimme?

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