
Der Schlauchturm – Von Mülltonnen, Kunst und einem verlorenen Offspace
Zwischen Abfall und Avantgarde – Eine ungewöhnliche Kunstgeschichte
Rüsselsheim war schon immer ein Ort, an dem sich Industrie und Kunst auf unerwartete Weise begegnen. Doch nur wenige wissen, dass der Schlauchturm, ein funktionales Relikt der städtischen Infrastruktur, einst eine künstlerische Transformation erlebte – und das durch eine recht eigenwillige, aber geniale Idee: Mülltonnen als Kunst am Bau.
Ende der 90er- oder Anfang der 2000er-Jahre kehrten die Verantwortlichen der städtischen Abfallwirtschaft von einer Messe zurück, die sich mit den neuesten Trends im Recycling und Abfallmanagement beschäftigte. Zwischen innovativen Konzepten und technischen Neuerungen stach etwas völlig anderes ins Auge: Mülltonnenskulpturen. Diese Idee ließ Werner Hullmann, den damaligen Betriebsleiter, nicht mehr los.
Zurück in Rüsselsheim, beauftragte er kurzerhand die Schlosser der Betriebshöfe, eine eigene Installation zu schaffen – und so wurden die Mülltonnen am Schlauchturm befestigt. Nicht als funktionale Elemente, sondern als künstlerische Intervention. Ein gewagtes, vielleicht auch schmunzelndes Statement: Müll als Kunst, als visuelle Irritation im urbanen Raum.
Das älteste Bild der Installation stammt aus dem Jahr 2003, doch zu diesem Zeitpunkt waren die Tonnen längst fester Bestandteil der Stadtlandschaft. Ein präzises Datum der Anbringung lässt sich nicht mehr rekonstruieren, aber eines steht fest: Sie hingen lange genug, um sich ins kollektive Gedächtnis einzubrennen.
Kunst im Turm – Ein Offspace mit besonderer Atmosphäre
Doch die Mülltonnen waren nicht die einzige künstlerische Intervention am Schlauchturm. Unter Hullmanns Leitung entstand hier ein temporärer Kunstort, der den nüchternen Zweckbau in eine Galerie mit industriellem Charmeverwandelte.
„Kunst im Turm“ wurde zum Konzept. Über mehrere Jahre fanden in dem ungewöhnlichen Raum Ausstellungen und Installationen statt, die einen völlig neuen Blick auf den Ort warfen. Die rohe Architektur, die Höhe des Turms, das Spiel aus Licht und Schatten – all das schuf eine einmalige Atmosphäre für Kunst, die sich außerhalb konventioneller Museen oder Galerien entfalten konnte.
Der vielleicht spektakulärste Eingriff war die Installation eines Foucaultschen Pendels. Ein wissenschaftliches Experiment, das eigentlich zur Veranschaulichung der Erdrotation dient, wurde hier zu einem künstlerischen Objekt – schwebend, schwingend, eine beinahe meditative Bewegung inmitten der massiven Wände des Turms.
Doch irgendwann war Schluss. Bauliche Mängel zwangen die Verantwortlichen, das Pendel zu entfernen, und mit ihm verschwand auch die Ära der Ausstellungen.
Von der Kunst zum gesicherten Bauwerk
Heute ist der obere Teil des Turms mit einer Gitterkonstruktion versehen, um zu verhindern, dass Gesteinsbrocken auf den Boden stürzen. Die Funktionalität hat die Kunst verdrängt – aus einem experimentellen Offspace wurde eine reine Sicherheitsmaßnahme.
Doch Erinnerungen bleiben.
Vielleicht ist der Schlauchturm ein Symbol für das, was Kunst im öffentlichen Raum oft ist: temporär, gewagt, manchmal skurril – und doch mit nachhaltiger Wirkung. Ein Projekt, das aus einer spontanen Idee entstand, dann eine Plattform für Kunst wurde und schließlich wieder in den Alltag überging.
Aber vielleicht – irgendwann – wird sich jemand an diese Zeit erinnern und den Turm erneut zum Leben erwecken. Denn Kunst sucht sich immer neue Wege.