MARIO HERGUETA

Eine erste Begegnung, die sich wie ein Wiedersehen anfühlte

Meine erste bewusste Begegnung mit Mario Hergueta fand 2018 statt. Wir waren Teil einer Arbeitsgruppe des Kulturdezernats, die sich mit der Frage nach Räumen für Kunst und Kultur in unserer Stadt beschäftigte. Doch eigentlich kannte ich ihn da schon. Besser gesagt: seine Arbeit. Die Skulptur “Heimat”, Teil des Rüsselsheimer Kunstpfads, hatte ich zuvor oft betrachtet, nie achtlos, denn sie trägt in sich diese stille Kraft, die Worte in Stahl gießt und sie doch lebendig wirken lässt.

hermanos en espíritu

Kurz nach unserer ersten Begegnung schrieb ich Mario eine Nachricht. Nicht wie ein Fremder, der anklopft, sondern wie jemand, der weiß, dass eine Tür bereits offensteht. Für meine Videoreihe Culturemap wollte ich ihn besuchen – nicht einfach nur für ein Interview, sondern um die Stille hinter den Skulpturen zu hören, die Räume zwischen den Worten zu spüren.

Ich betrat sein Atelier zum ersten Mal mit einer Kamera in der Hand, aber mein Blick war längst auf Empfang gestellt. Und kaum dass wir zu sprechen begannen, geschah etwas Unerwartetes – nicht lauter Knall, sondern ein leises Einrasten. Es war, als würde man nicht jemanden neu kennenlernen, sondern wiederfinden. Unsere Stimmen fielen ineinander wie alte Melodien, unsere Gedanken streiften dieselben Fragen: nach Herkunft, Ausdruck, Verantwortung.

Jenes Gespräch war mehr als ein Interview. Es war ein Austausch zweier Welten, die einander nicht erklären mussten. Ein tastendes, ehrliches Fragen – und ein Vertrauen, das zwischen Staub und Stahlfugen zu wachsen begann. Die Kamera lief weiter. Doch was wirklich zählte, war das, was sich jenseits des Objektivs entfaltete: eine Verbindung, die nicht abreißen sollte.

Nun, Jahre später, betrete ich erneut Marios Atelier – dieses Mal nicht mit Kamera, sondern mit offenen Augen und einem neuen Kapitel in der Tasche: ARTSbesuch. Mario steckt gerade mitten in den Vorbereitungen für ein neues Kunst am Bau-Projekt. Zwischen Skizzen, Modellen ist da wieder dieses Gefühl: als würde man einen Bruder treffen. Nicht durch Blut verbunden, sondern durch Geist, Geste und Geschichte – hermanos en espíritu.

Ein gemeinsames Viertel, verwandte Fragen

Seitdem habe ich Mario oft in seinem Atelier im Opel-Altwerk besucht – ein Ort voller Fragmente, Versatzstücke, Skulpturen im Werden. Irgendwann wurden wir Nachbarn auf dem Gelände, als hätte das Gelände selbst entschieden, dass unsere Wege sich noch näher verweben sollen.

Trotz der Häufigkeit unserer Begegnungen verlieren unsere Gespräche nie ihre Tiefe, nie ihren Zauber. Vielleicht, weil zwischen uns nicht nur die Liebe zur Kunst steht, sondern auch ein stilles Erkennen: Mario ist – wie ich – ein Kind migrantischer Eltern. Seine Wurzeln reichen nach Madrid, meine an andere Küsten, doch wir beide sind in Haßloch-Nord verwurzelt. Auch er wuchs zwischen Wohnblöcken, Innenhöfen und den seltsamen Namen der Straßen im Malerviertel auf, die schon früh mehr Fragen aufwarfen als Antworten gaben.

Wir teilten dieselben Wege: die Albrecht-Dürer-Schule, die Lucas-Cranach-Straße, die Heinemann-Schule. Und wir teilten denselben Hunger – nach Ausdruck, nach Möglichkeit. Während andere sich vielleicht mit einem Kurs begnügten, suchte Mario mehr. Sein Durst nach Kunst ließ ihn auch in die Kurse der Parallelklassen wandern, als müsste er sich durch alle Fenster eines Gebäudes schauen, um es wirklich zu verstehen. Es ging ihm nie nur um Technik. Es ging um Geste, Haltung, Frage. Vielleicht war das schon damals die erste Skulptur, die er formte – seine eigene Perspektive auf die Welt.

Es war mehr als Zufall – fast wie ein gelebtes Symbol, dass Mario im Rahmen des gewobau-Wettbewerbs im Malerviertel eine Arbeit zu Lucas Cranach einreichte, ausgerechnet für jenes Haus, in dem ich aufgewachsen bin. Dort, wo einst meine ersten Fragen nach Herkunft und Ausdruck keimten, ließ er nun seine künstlerische Handschrift einfließen – als würde sich unser beider Weg in einer stillen Hommage an die Vergangenheit berühren.

Kunst als Raum, nicht nur für das Eigene

Mario studierte von 1988 bis 1995 Kunstgeschichte und Bildende Kunst in Frankfurt und Mainz. Er wurde Meisterschüler in der Bildhauerklasse von Prof. Ansgar Nierhoff an der heutigen Kunsthochschule Mainz. Schon während seines Studiums suchte er nicht nur nach Räumen für sich selbst, sondern für viele. Gemeinsam mit einem Freund besetzte er das Dachgeschoss der alten Lampenfabrik in Mainz. Die Szene ist filmreif: in Schutzanzügen entrümpelten sie das Geschoss, schufen einen Raum im Raum, der zu ihrem Atelier wurde. Später kuratierte Mario auch Ausstellungen in der Lampenfabrik.

Es war nie nur sein Ziel, die eigene Kunst zu zeigen. Er wollte zeigen, was andere schufen, was entstand, wenn Menschen sich begegneten. Diese Haltung zieht sich durch sein Werk wie ein roter Faden. Ob Cuadro Art Magazine, ob KunstSalon – Mario gibt Impulse, setzt Formate auf, denkt Netzwerke, schafft Plattformen.

Für seine künstlerische Arbeit erhielt er renommierte Auszeichnungen: Arbeitsstipendien der Casa Baldi (Deutsche Akademie Rom Villa Massimo) sowie der Stiftung Kunstfonds Bonn. Zudem wurde er mit dem Förderpreis für Bildende Kunst der Stadt Mainz ausgezeichnet.

Sprache, die bleibt – auch wenn sie übermalt wird

Schon als Kind war Mario fasziniert von den Anti-Franco-Sprüchen auf den Mauern Madrids – jenen flüchtigen Botschaften des Widerstands, die mit einfachen Pinseln auf rauem Putz hinterlassen wurden. Worte, die nicht bleiben durften, aber trotzdem nicht verschwanden. Denn sie wurden übermalt, immer wieder, Schicht für Schicht – und schufen so etwas Neues: eine Textur der Erinnerung, eine palimpsestartige Sprache aus Farbe, Form und Vergangenheit.

Diese frühe Begegnung mit übermalten Botschaften, mit Worten als Material und Material als Aussage, hallt bis heute in Marios Werk nach. Man findet sie in seiner Liebe zur Typografie, in seinen Siebdrucken, in seiner Auseinandersetzung mit neuen Medien – doch vor allem in seinem Umgang mit Fläche. Für ihn ist nichts einfach Oberfläche. Alles ist Träger von Bedeutung, auch das, was schon da ist. Seine Skulpturen sprechen nicht nur, sie erinnern. Seine Linien sind keine reinen Formen, sondern Spuren.

Ein Beispiel dafür ist seine Skulptur “Curatio” an der Uniklinik Mainz – mehr als ein Kunst-am-Bau-Projekt. Sie ist Geste, Haltung, Antwort auf einen Ort des Heilens. Keine laute Intervention, sondern ein stilles Gewebe, das sich mit der Architektur verbindet, als wäre es immer schon da gewesen.

Und auch in seinen großformatigen Wandarbeiten – in Trier, Mainz oder Wittlich – begegnet uns diese Schichtung von Sprache und Raum. Seine Murals sind nie nur Bilder, sondern fragmentierte Erzählungen: sie werfen Fragen auf, verweben Geschichte mit Gegenwart, laden ein zum Innehalten. Auch dort spürt man diese Haltung, die aus dem Kind geworden ist, das einst stehen blieb vor einer Wand voller Worte – und nie aufgehört hat, hinzusehen.

Rekonstruktion, Dekonstruktion, eine Form von Wahrheit

Was Marios Werk durchzieht, ist der Blick für das, was bleibt, wenn man Schichten ablöst. Für das, was entsteht, wenn man etwas zerstört, um es neu zu denken.

In diesem Denken liegt eine starke Verbindung zu Antoni Tàpies. Der katalanische Künstler, dessen Werke Mario zutiefst beeindrucken, kombinierte Materialität und Geisteshaltung auf radikale Weise. Tàpies malte nicht im klassischen Sinn – er schichtete, kratzte, klebte, fügte Stoffe, Erde, Asche oder Kreuze zu Bildflächen, die wie archäologische Fundstücke wirken. Seine Werke tragen Spuren, Wunden, Einritzungen. Sie sind keine Erzählungen, sondern Zustände – sichtbar gemachte Geschichte, gelebte Erfahrung, Widerstand gegen das glatte Bild.

Mario hat für den Kunstsalon eine Ausstellung zu Tàpies kuratiert – nicht aus akademischer Distanz, sondern aus echtem Dialog. Auch in seinen eigenen Arbeiten begegnen uns diese Spuren: Sprachfragmente, verwitterte Oberflächen, Materialien mit Vergangenheit. Beide Künstler verbindet ein Denken in Schichten, ein Arbeiten mit dem, was schon da ist – und doch neu gelesen werden will. Bei Mario wie bei Tàpies wird Kunst zum Medium, das nicht nur zeigt, sondern erinnert. Und befragt.

Heimat – ein Wort aus Stahl, ein Gefühl aus Begegnung

Wenn man seine Skulptur “Heimat” betrachtet, spürt man vieles von dem, was ich hier erzähle. Buchstaben aus Cortenstahl, die sich anlehnen, gegenseitig stützen. Ein Wort, das so oft missbraucht wird, aber hier eine neue Form bekommt. Eine, die verbindet statt auszugrenzen.

Marios Kunst erzählt von Sprache, Herkunft, Erinnerung. Und von der Kraft, all das in etwas Neues zu übersetzen. Immer wieder.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Nach oben scrollen