




Der Kunstpfad: Eine Freiluftgalerie zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Kunst braucht Räume – manchmal geplante, manchmal entstehen sie zufällig. Der Kunstpfad im Mainvorland ist ein Beispiel dafür, wie sich ein Offspace in die Stadtlandschaft einschreibt und dabei Geschichte und Gegenwart verbindet. Eine Freiluftgalerie, die sich nicht hinter den Mauern eines Museums verbirgt, sondern den öffentlichen Raum nutzt, um mit den Menschen in Dialog zu treten.
Ein Kunstpfad mit Geschichte
Der Kunstpfad Mainvorland geht auf eine Initiative des ehemaligen Bürgermeisters und Kulturdezernenten Dennis Grieser (Amtszeit 2014–2024) zurück. Unter seiner Leitung entschied die Stadtverordnetenversammlung Rüsselsheim 2015, einen Wettbewerb für Kunst im öffentlichen Raum auszurufen. Ziel war es, zeitgenössische Kunst in den urbanen Raum zu integrieren und eine Brücke zwischen der industriellen Vergangenheit, der kulturellen Identität und den Herausforderungen der Gegenwart zu schlagen.
78 Künstler*innen reichten ihre Ideen ein, zwölf von ihnen durften Modelle entwickeln, vier wurden schließlich realisiert. Jede dieser Skulpturen erzählt eine eigene Geschichte, verweist auf Aspekte der Stadt oder öffnet Fragen zu Identität, Heimat und Wandel.
Dabei ist der Kunstpfad nicht isoliert – er knüpft bewusst an bestehende Kunst im öffentlichen Raum an. Der „Leinreiter“ von Detlef Kraft, seit 1994 ein fester Bestandteil der Szenerie am Landungsplatz, markiert den Beginn des Pfads. Diese Skulptur erinnert an eine Zeit, als kräftige Pferde Schiffe flussaufwärts zogen und Rüsselsheim ein Knotenpunkt des Handels war. Heute flankieren vier weitere Kunstwerke den Weg entlang des Mains und fügen sich in das Stadtbild ein, als wären sie schon immer da gewesen.
Zwischen Dauerparker und Shortcut: Kunst als Reflexion der Stadt
Der „Dauerparker“ von Matthias Braun gießt mit einem Opel Manta die automobile Vergangenheit der Stadt in Beton. Ein Relikt der Opel-Ära, eingefroren im Moment, als würde es niemals weiterfahren. Der Kontrast zwischen Bewegung und Stillstand wird hier zum Sinnbild für Rüsselsheims industrielle Geschichte.
Mario Herguetas Skulptur „HEIMAT“ spielt mit Sprache, mit Perspektive und mit dem Begriff Heimat selbst – ein Wort, das für jeden eine andere Bedeutung hat und in der heutigen Zeit neue Fragen aufwirft. Die Buchstaben stehen zueinander in einer Weise, die den Betrachter herausfordert, die eigene Sichtweise zu überdenken.
Özlem Günyol und Mustafa Kunt thematisieren mit „Where am I? As if in a dream… Did we arrive?“ die Migrationsbewegungen der letzten Jahre. Die geschwungene Betonstruktur bildet die Route einer Syrerin auf der Flucht nach Europa nach – ein Monument, das sich mit der Frage auseinandersetzt, was es bedeutet, anzukommen.
Martin Feldbauers „Shortcut“ wiederum spielt mit der Illusion der Abkürzung. Eine große, runde, scheinbar naheliegende Möglichkeit, den direkten Weg zu gehen – doch wer sie nutzt, landet fast wieder am Ausgangspunkt. Ein Sinnbild für den Strukturwandel der Stadt, für den Wunsch nach Veränderung, der doch oft im Kreis verläuft.
Offspace: Wenn der Stadtraum zur Galerie wird
Ein Offspace ist ein Raum, der Kunst ermöglicht, ohne den Schutz eines Museums oder einer Galerie. Er entsteht dort, wo Kunst auf den Alltag trifft, wo sie sich in den urbanen Raum einschreibt. Der Kunstpfad Mainvorland ist genau das – eine sich wandelnde, zugängliche Ausstellung, die keine Eintrittskarte verlangt, sondern sich den Passanten einfach in den Weg stellt.
Ich erinnere mich daran, wie ich in den Anfängen der Artmap in den Archiven des Heimatvereins recherchiert habe, um verborgene Spuren der Stadtgeschichte wieder sichtbar zu machen. Genau das macht auch der Kunstpfad: Er setzt sich mit der Stadt auseinander, lässt Vergangenheit und Gegenwart aufeinandertreffen und lädt dazu ein, neue Perspektiven einzunehmen.
Denn manchmal ist ein Kunstwerk nicht nur das, was man sieht – sondern das, was es mit dem Raum macht, in dem es steht. Und genau das macht den Kunstpfad zu einem Offspace: eine offene Bühne für Reflexion, Begegnung und Veränderung.