ERINNERN UND VERGESSEN

Die Wendemaler in Rüsselsheim: Kunst zwischen Licht und Schatten

Zwei Straßen, zwei Fassaden, zwei Künstler – und ein Lichtspiel, das ausblieb

Das Malerviertel in Rüsselsheim, in dem die Straßen nach Künstlern wie Käthe Kollwitz und Ernst Barlach benannt sind, war der erste künstlerische Raum meiner Kindheit. Ich bin in der Lucas-Cranach-Straße aufgewachsen und kann mich noch gut daran erinnern, wie meine Neugier für Kunst genau hier geweckt wurde. Ich war fasziniert von der Fernsehsendung 1000 Meisterwerke auf 3Sat – ein Format, das mich schon früh in die Welt der Kunst eintauchen ließ.

Die Wendemaler, eine einflussreiche Rüsselsheimer Künstlergruppe der 1980er-Jahre, hinterließen hier ein ganz besonderes Werk. In Erinnerung an Käthe Kollwitz und Ernst Barlach schufen sie die Installation „Erinnern und Vergessen“, eine moderne Adaption zweier ikonischer Werke.

Die Installation greift das berühmte Güstrower Ehrenmal „Der Schwebende“ von Ernst Barlach aus dem Jahr 1927 auf, dessen Kopf die Züge von Käthe Kollwitz trägt. Gleichzeitig zitiert sie Kollwitz’ eigenes Werk „Die Klage. Selbstbildnis um den Tod Barlachs klagend“ (1938/39), das sie nach dem frühen Tod ihres Freundes schuf.

Käthe Kollwitz (1867–1945) und Ernst Barlach (1870–1938) waren nicht nur bedeutende Künstler des frühen 20. Jahrhunderts, sondern auch eng miteinander verbunden. Ihre Werke reflektieren tiefes Mitgefühl für die Opfer von Krieg und sozialer Ungerechtigkeit – Themen, die sie beide intensiv beschäftigten.

Die Installation der Wendemaler sollte auf eine besondere Weise wirken: Licht sollte das Werk erschaffen. Feine Reliefs aus Acryl, mit chirurgischer Präzision geschnitten, sollten durch das Sonnenlicht an die Wände der Häuser projiziert werden. Doch der gewünschte Effekt blieb aus – die Schattenlage machte das Kunstwerk unsichtbar. Die Rüsselsheimer schmunzelten über das missglückte Kunstexperiment, doch das Werk bleibt eine Hommage an zwei außergewöhnliche Künstlerpersönlichkeiten.

Kollwitz und Barlach verband nicht nur eine Straße in Rüsselsheim, sondern auch eine tiefe Freundschaft und der gemeinsame Widerstand gegen die NS-Kulturpolitik. Während Barlach als „entarteter Künstler“ diffamiert wurde und hunderte seiner Werke zerstört wurden, protestierte er öffentlich gegen den Zwangsausschluss von Kollwitz aus der Preußischen Akademie. Auch sie wurde mit einem inoffiziellen Ausstellungsverbot belegt. 1938 nahm Käthe Kollwitz an Barlachs Beerdigung teil und verarbeitete ihre Trauer in dem Bronzerelief „Die Klage“ – eines der Werke, das die Wendemaler als Vorlage für ihr Lichtrelief nutzten.

Vielleicht könnte moderne LED-Technik heute das ursprüngliche Konzept doch noch zum Leben erwecken – eine späte Würdigung für Kollwitz, Barlach und die Wendemaler.

Die Wendemaler: Künstlerische Revoluzzer aus Rüsselsheim

Die Wendemaler, gegründet von Uwe Wenzel und Martin Kirchberger, waren eine provokative Künstlergruppe, die das Stadtbild von Rüsselsheim mit ihren kreativen und oft humorvollen Werken prägte.

Uwe Wenzel ist auch heute noch in Rüsselsheim künstlerisch aktiv. Eines seiner neueren Werke ist das „Quintuplet“, eine Skulptur, die sowohl an die lange Fahrradtradition der Stadt als auch an die fünf Söhne von Adam Opel erinnert. Die Installation steht am südwestlichen Eingang des Verna-Parks und verbindet auf spielerische Weise Technikgeschichte mit künstlerischer Interpretation.

Die Wendemaler waren berühmt für ihre unkonventionellen Ideen. So schufen sie etwa den „Personalausweis von Adam Opel“, ein Kunstprojekt, das frühzeitig auf Datenschutzfragen aufmerksam machte – lange bevor das Thema gesellschaftlich relevant wurde.

Doch die Geschichte der Wendemaler nahm 1991 ein tragisches Ende. Bei Dreharbeiten zu seinem Filmprojekt BUNKERLOW verunglückte Martin Kirchberger tödlich. Trotz dieses Verlusts lebt ihr Erbe in Rüsselsheim weiter. Geführte Radtouren stellen ihre Werke vor, und ihre Kunst inspiriert bis heute junge Künstlerinnen und Künstler.

Die Wendemaler haben mit ihren Werken gezeigt, dass öffentliche Kunst mehr sein kann als Dekoration. Sie provozierten, experimentierten und stellten sich gegen Konventionen – eine künstlerische Haltung, die bis heute Spuren hinterlässt.

So bleibt „Erinnern und Vergessen“ nicht nur ein Denkmal für Kollwitz und Barlach, sondern auch für die Wendemaler selbst – ein Symbol für den Mut, die Kunst als Mittel zur Reflexion und Auseinandersetzung mit Geschichte und Gesellschaft zu nutzen.

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