THOMAS MARUTSCHKE

Trashlines, Erinnerungen und die Kunst des Weitergehens

Manchmal führen Wege nicht nur zusammen, sie kreuzen sich immer wieder. Thomas Marutschke und ich – Luftliniennachbarn, die sich zwischen Königstädter Spaziergängen, Vernissagen oder im Boesner begegnen. Ein beiläufiges Gespräch über seine Rüsselsheim-Weingläser, die ich einst für das Chausseehaus witzig fand. Doch heute ist mehr als eine zufällige Begegnung. Heute geht es ums Zuhören, ums Erinnern, ums Erzählen.

Der Empfang im Studio Trashline ist warm, der Kaffee dampft. Ich stelle meine Lieblingsfrage: Wo bist du in Rüsselsheim aufgewachsen?

Wurzeln, Umwege und die Kunst, es noch einmal zu versuchen

„Dicker Busch 1“, sagt Thomas, und sofort entstehen Bilder. Eine Kindheit, Büchner-Schule, dann Kant-Gymnasium. Danach: Darmstadt. Studium: Kommunikationsdesign. Ein Studiengang, den ich selbst nach dem Abitur anstrebte – bis ich an der Aufnahmeprüfung scheiterte. Für mich brach damals eine Welt zusammen. Thomas hingegen? Er probierte es einfach noch einmal. Und bestand. Vielleicht liegt hier schon ein erster, feiner Unterschied. Ein Unterschied, der entscheidet, ob man sich irgendwann mit der Frage „Was wäre gewesen?“ quält – oder ob man ein Studio namens Trashline hat.

Während des Studiums assistiert er bei Bengt Fosshag, einem Mann mit großem Namen und feinem Strich. Parallel baut er sich ein solides Netzwerk auf. Als das Studium endet, gibt es für ihn keinen Plan B. Nur die Selbstständigkeit. Die Kunst. Der eigene Weg.

Duty Free, Rüssel Rock und die Kraft des DIY

Doch die Geschichte beginnt früher. Duty Free, ein Rüsselsheimer Comic, geboren aus der Subkultur der Rüssel Rock-Ära. Bands wie Urtrieb, Zank, The Reichstag – und ein Comic, der diese Zeit begleitet. Alles selbst gemacht. Alles Handarbeit. Ein kreativer Schmelztiegel, in dem Musik und Illustration ineinandergreifen, sich gegenseitig antreiben. Papier, das Bühnenbilder schafft. Zeichnungen, die Songs erzählen.

Sein erstes Studio hat er in den Räumen von Dorndruck in Raunheim. Es ist hier, wo sich ein Satz in die Zukunft brennt: „Du und deine Trashlines.“ Dorn sagt es beiläufig, während er Thomas’ Arbeiten betrachtet – Trashline beschreibt eine Linienführung, die Fehler, Unregelmäßigkeiten und manuelle Texturen integriert. Eine Ästhetik, die oft in der Punk-Szene, DIY-Zines und Underground-Comics der 80er und 90er genutzt wurde. Sie ist nicht glatt, nicht poliert, sondern lebendig – geprägt von Handarbeit, oft improvisiert und voller Energie.

Thomas verwendet damals Pantone Farbfolien, Sie erlaubten es farbige Flächen zu gestalten, um kontrastreiche Illustrationen zu erzeugen. Ein Prozess, der Präzision verlangte, aber gleichzeitig Raum für zufällige Strukturen ließ – genau das, was Trashline ausmacht. Das Label bleibt, auch wenn es Iterationen gibt, aus Trashline Studios, wird Trashline – Studio für illustrative Kommunikation bis zum heutigen Studio Trashline. Es wächst. Zunächst eine Art Spitzname, dann eine Ästhetik, schließlich der Name eines Studios, das bis heute existiert und seit 25 Jahren in der Eisenstrasse 37 zu findet ist.

Karin, ein gemeinsamer Blick – und ein Abschied

1990 kommt seine Frau Karin dazu. Eine Partnerin in der Kunst, in der Gestaltung, im Leben. Sie entwirft, er illustriert. Eine Synergie, die mehr ist als bloße Ergänzung. Bis 2018. Karin verstirbt. Viel zu früh. Eine Zäsur, die alles verändert.

Doch Thomas arbeitet weiter. Vielleicht, weil es keinen anderen Weg gibt. Vielleicht, weil es in der Natur der Linien liegt, sich fortzusetzen. Vielleicht auch, weil jeder Strich, jede Illustration, jedes neue Projekt eine Art Dialog mit der Vergangenheit bleibt. Die Erinnerung in Bildern halten. Die Geschichte nicht enden lassen.

Wer Thomas nicht kennt, kennt seine Arbeiten

Thomas ist einer dieser Künstler, die das Stadtbild prägen, ohne dass man es bewusst wahrnimmt – und doch sind seine Spuren überall. Er ist das „r“ in Rüsselsheim, der kreative Kopf hinter den ersten Rüsselsheim-Merchandising-Artikeln und ein stetiger Begleiter der Stadtästhetik. Seit 2012 erscheint jährlich der Trashline-Kalender, eine Sammlung von zwölf freien Arbeiten, die sich zwischen Retro, Minimalismus und Abstraktion bewegen. Mal als feine One-Liner, mal in 8-Bit-Optik, immer mit einer Klarheit, die Geschichten erzählt. Doch sein Einfluss reicht weit über den Kalender hinaus: Beim Klassikertreffen, bei Kuni und der Kinderuni, im Gewerbeverein, auf den Flaschen von Toto’s Rüsselsheimer Gin oder in der visuellen Gestaltung der IKS und Enza – überall finden sich seine unverkennbaren Trashlines, jene Linien, die roh und doch so präzise das Wesen einer Stadt einfangen.

Er sitzt in der Jury von Illust_ratio, einer Plattform für Illustrationstalente. Er hätte sich eine solche Möglichkeit während seines Studiums gewünscht. Nun gibt er sie weiter, hilft anderen, sichtbar zu werden, so wie er es sich damals gewünscht hätte. Er nimmt jedes Jahr am Königstädter Kunstkilometer teil, öffnet sein Atelier, stellt mit seinem Bruder Andreas aus. Andreas fängt Rüsselsheim mit der Kamera ein, Thomas übersetzt es in Linien – Fotografie und Illustration, zwei Blickwinkel auf eine Stadt, die sich in ihren Arbeiten treffen. Es geht um das Teilen, um den Austausch. Auch auf der Mainzer Minipressenmesse ist er zu finden – dort, wo das gedruckte Wort und die Illustration sich berühren.

Reduktion und Abstraktion

Thomas’ Arbeiten sind getrieben von Reduktion und Abstraktion, von einer Ästhetik, die sich aus selbst gesetzten Limitierungen speist. Ein Beispiel dafür sind seine 8-Bit-Illustrationen – jede davon ein kleines Regelwerk aus 700 Quadraten und maximal 10 Farben, um ein Motiv zu erschaffen. Diese bewusste Beschränkung zwingt zur Essenz, zur Verdichtung einer Idee auf das Wesentliche. Auch wenn seine Werke heute nicht mehr mit dem Skalpell entstehen, bleibt das Fundament unverändert: Jede Arbeit beginnt mit Bleistift und kariertem Papier, sein Sketchbook immer griffbereit. Doch Thomas denkt über das klassische Medium hinaus – er liebt es, Motive auf dreidimensionalen Objekten umzusetzen. Flaschen, Gläser – etwas, das bleibt, das genutzt wird. Ein Gegenstand, der nicht nur betrachtet, sondern in den Alltag integriert wird. Und plötzlich wird aus einer Bleistiftskizze angewandte Kunst – greifbar, erlebbar, Teil einer Umgebung.

Die Artmap und ein Kreislauf aus Begegnungen

Thomas und ich teilen etwas: Die Artmap. Als ich begann, erreichte mich ein Paket von ihm. Ein Trashline-Kalender, Rüsselsheimer Postkarten. Eine Art „Viel Erfolg!“ aus Papier und Druck. Acht Jahre später bleibt die Verbindung. 2024 organisierte er mit dem Stadtmarketing eine Radtour zur Kunst im öffentlichen Raum – und nutzte auch die Artmap zur Orientierung.

Es gibt Begegnungen, die sich in Kreisen bewegen. Sie beginnen, unterbrechen sich, finden sich wieder. Heute war so ein Tag.

Und ich weiß: Dies wird nicht mein letzter Besuch gewesen sein.

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