JONATHAN ROTH

Dr. Jonathan Roth – Der Möglichmacher

Die Geschichte beginnt oft leise

Manche Wege manifestieren sich schleichend und unterbewusst. Nicht jede Begegnung beginnt mit einem Paukenschlag – manche schleichen sich über Jahre ins eigene Leben, bis man merkt: Es war längst ein Dialog im Gange.

Für meinen heutigen Gesprächspartner muss ich etwas weiter ausholen.

Als ich im Jahr 2017 rund 25 Beiträge zur ArtMap recherchierte, fotografierte und dokumentierte – ein Versuch, der Kunst im öffentlichen Raum von Rüsselsheim ein Gesicht, einen Kontext, eine Geschichte zu geben – stieß ich auf Lücken. Auf Fragmente, auf fehlende Informationen. Am 19.09.2017 schrieb ich an die damalige Kultursteuerung der Stadt:

„Sehr geehrte Damen und Herren, mein Name ist Sam und ich habe vor einiger Zeit angefangen, ein Register über öffentliche Kunst in Rüsselsheim zu erstellen und stoße derweil auf Informationsgrenzen. Hat die Stadt Rüsselsheim weiterführende Informationen…“

Was damals eine einfache Anfrage war, wurde zum Anfang einer längeren Reise: Zugang zum Stadtarchiv, erste Treffen, viele Dokumente, neue Gespräche – und eine erste Zusammenarbeit mit der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, genauer: mit Prof. Dr. Michael Simon, Professor für Kulturanthropologie, mit den Forschungsschwerpunkten visuelle Kultur, Erinnerungspolitik und partizipative Stadtforschung.

Und irgendwann, still und beinahe selbstverständlich aber dennoch zufällig, war da auch Dr. Jonathan Roth.

Woher wir kommen

Jonathan wurde 1984 in Zweibrücken geboren. Wer dort aufgewachsen ist, kennt den Namen Roth. Der Urgroßvater von Jonathan, Ignaz Roth, war ein Schreiner, Gewerkschafter, SPD-Politiker – und ein Mensch mit Rückgrat. Während der NS-Zeit wurde er wegen seines politischen Engagements inhaftiert. Nach dem Krieg wurde er von der amerikanischen Besatzungsmacht zum Bürgermeister von Zweibrücken ernannt.

Er baute die zu 85 % zerstörte Stadt mit auf, gründete eine Wohnungsbaugesellschaft, war ein Mann der Tat – und der Überzeugung, dass Politik den Menschen dienen muss.

Diese Haltung scheint in der Familie geblieben zu sein.

Erinnerung als ethnografische Spurensuche

Jonathan studierte Kulturanthropologie/Volkskunde sowie Vor- und Frühgeschichte in Mainz. Seine Dissertation schrieb er über politische Basisstrukturen – eine ethnografische Nahaufnahme lokaler Parteiarbeit. Betreut wurde sie von niemand Geringerem als Prof. Simon, mit dem auch mein ArtMap-Projekt verbunden ist.

In seiner Veröffentlichung „An der Basis der Politik“ (2019) fragt Jonathan: Wie funktioniert Demokratie im Alltag? Was bedeutet politische Teilhabe jenseits von Schlagzeilen und Parlamenten? Und was sagt es über unsere Gesellschaft aus, wie wir miteinander umgehen, organisieren, erinnern?

Zuvor hatte er bereits mit „2000 Jahre Varusschlacht – Jubiläum eines Mythos?“ (2012) eine kulturanthropologische Fallstudie zur Erinnerungskultur vorgelegt – ein Thema, das ihn bis heute begleitet: Wie schreiben wir Geschichte? Wer wird erinnert – und wer vergessen?

Vom Westend nach Rüsselsheim

Nach der Promotion arbeitete Jonathan als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Film-, Theater- und empirische Kulturwissenschaft der Universität Mainz. Dort leitete er unter anderem das Projekt „Hinterhof Westend“ – eine ethnografische Erkundung des Wiesbadener Stadtteils mit all seinen Brüchen, Geschichten und Perspektiven.

Sein Weg nach Rüsselsheim war – wie so viele dieser Wege – kein gerader. Über die Familie seiner Frau kam er regelmäßig hierher, bevor er sich beruflich für die Stadt entschied. 2021 kündigte er seine Stelle an der Uni. Eine neue Richtung war nötig. Und dann war da die Ausschreibung – Kulturmanager für die Stadt Rüsselsheim.

Er zögerte nicht lange.

Kultur als Haltung, nicht als Verwaltung

Seit 2022 leitet Jonathan das Kulturbüro. Doch wer ihn kennt, weiß: Er ist kein Kulturverwalter. Er ist ein Kulturermöglicher.

Ich erinnere mich gut an unser erstes Treffen in meinem Atelier. 2022. Seitdem sind viele Gespräche dazugekommen – und ich schätze jedes davon. Jonathan hört zu. Wirklich. Nicht mit dem Blick auf die Uhr oder mit dem Ziel, zu steuern, sondern mit ehrlichem Interesse.

Er engagiert sich für Formate wie das , das Bel R!-Festival, er informiert über aktuelle Kulturaktivitäten und steht der jungen Szene offen gegenüber. Vielleicht weil er weiß: Wer heute experimentiert, gestaltet das Morgen.

Dabei hilft ihm auch seine eigene Theaterleidenschaft – seit seiner Schulzeit ist er Teil verschiedener Ensembles. Ein Blick durch andere Rollen, andere Masken, andere Wirklichkeiten. Vielleicht ist es auch das, was ihn so offen macht für Mehrdeutigkeiten – für Menschen und Ideen, die nicht glatt und rund sind.

Identität, Gesellschaft und das Unfertige

In unseren Gesprächen geht es oft um mehr als nur Kunst. Es geht um Identität. Um Zugehörigkeit. Um die Frage, welchen Platz Kultur in der Gesellschaftspolitik einnimmt – und einnehmen sollte.

Kultur ist für Jonathan kein Schmuckstück. Kein Sahnehäubchen nach der Arbeit. Sie ist ein soziales Grundrauschen. Ein Raum, in dem gesellschaftliche Fragen verhandelt, gespürt, erlebt werden.

Ich sehe in Jonathan jemanden, der genau das lebt. Der weiß, dass Erinnerung keine Vergangenheit ist, sondern gelebte Gegenwart. Dass Identität kein Label ist, sondern ein Prozess. Und dass Kultur nicht von oben geplant, sondern von unten genährt wird.

Eine stille Hoffnung

Wenn ich an die frühen Tage meines ArtMap-Projekts zurückdenke, an die Suchbewegungen, die unbeantworteten Fragen, dann freut es mich umso mehr, heute Teil eines Netzwerks zu sein, in dem sich Stimmen wie die von Jonathan erheben.

Er zeigt, dass auch in einer Stadt wie Rüsselsheim – mit all ihren Herausforderungen, ihren Brüchen, ihrer Vielfalt – Raum ist für neue Wege. Für andere Perspektiven. Für Kultur, die nicht einfach ist, sondern wird.

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