ADRIANA WOJTKIEWICZ

ARTSbesuch – Spuren im Zwischenraum

Der Freiraum als Möglichkeitsraum

Es gibt Orte, die mehr sind als Wände, Licht und Menschen. Orte, die einen Zustand erzeugen – einen Zustand des Möglichen. Das  in Rüsselsheim ist für mich genau so ein Raum. Immer wenn ich dort bin, spüre ich dieses leise Pulsieren von Ideen, Gedanken und Experimenten. Es ist ein Ort, der nicht fragt, was du schon erreicht hast, sondern was du bereit bist zu versuchen. Ein Ort, an dem erfahrene Künstler:innen, angehende Gestalter:innen, Suchende und Unentschlossene nebeneinander wirken.

Und mit jeder ausgestellten Arbeit, jedem Gespräch, jeder Spur an der Wand wird etwas hinterlassen für den oder die Nächste. Genau das braucht eine Stadt wie Rüsselsheim – Räume, die nicht nur gefüllt werden, sondern wachsen dürfen. Und noch schöner ist es, wenn man dort Menschen trifft, die selbst gewachsen sind. So wie Adriana.

Von Lubań nach Rüsselsheim – Wurzeln, die wandern

Adriana wurde in Lubań, einem kleinen Ort im Südwesten Polens, geboren – einer Stadt mit Spuren des Übergangs, geprägt vom Lauf der Geschichte. Erst mit acht Jahren kam sie nach Rüsselsheim. Ein neues Kapitel, in einer Sprache, die fremd klang, in einer Stadt, die neu roch. Sie besuchte die Grundschule Innenstadt, später das Max-Planck-Gymnasium, wo sie mit einem beeindruckenden 1,4-Abi abschloss. Doch Zahlen sind nur eine Seite. Die andere ist der innere Ruf, der sie früh zur Kunst führte.

Bereits während der Schulzeit begann Adriana zu malen. Sie wusste: Das ist mein Weg. Mit 18 Jahren träumte sie davon, Kunst in Offenbach zu studieren. Doch die Pandemie verwischte viele Linien – auch ihre. Die Mappenberatung fand per Zoom statt, Distanz statt Dialog. Ihre Mappe wurde kritisiert, der Traum erst einmal auf Pause gestellt.

Doch sie ließ sich nicht entmutigen.

Zwischen Enttäuschung und Antrieb – Resilienz als Sprache

Ich erinnere mich gut an meine eigene Mappe, die Ablehnung, das Gefühl der Unsichtbarkeit. In meiner Zeit gab es keine Räume wie das f³ oder das Rollwerk. Keine Orte, an denen man sich ohne Bewertung ausprobieren durfte. Umso mehr bewundere ich Adrianas Weg. Sie reichte ihre Mappe – dieselbe – für den Studiengang Kommunikationsdesign ein. Und siehe da: Sie wurde angenommen.

Heute steht sie kurz vor dem Abschluss ihres Studiums und absolviert parallel eine Ausbildung zur Tätowiererin. Es sind diese Wege, die nicht gerade verlaufen, aber umso tiefer graben. Wege, die zeigen: Wer früh lernt, sich durchzusetzen, der wächst auch an den Widerständen. Als Kind war es die Sprache. Später waren es Vorurteile. Und immer war es das Ringen um Platz in einer neuen Welt.

Von transgenerationalem Erbe und migrantischer Resilienz

Adriana trägt – wie viele von uns – eine stille Stärke in sich. Eine Resilienz, die oft unbemerkt bleibt. Die Fähigkeit, sich zu behaupten, ohne laut zu sein. Zu bleiben, wo andere gehen. Zu gestalten, auch wenn der Raum dafür nie vorgesehen war. Diese Kraft sehe ich oft bei Kindern von Einwandererfamilien – Menschen, die schon früh zwischen Kulturen übersetzen mussten. Die gelernt haben, zwischen den Zeilen zu lesen, weil man dort am ehesten verstanden wird.

In meiner Ausstellung 2024 habe ich mich intensiv mit transgenerationalen Traumata beschäftigt – mit den unsichtbaren Rissen, die sich durch Familien ziehen, über Generationen hinweg. Wenn Adriana spricht, erkenne ich vieles davon wieder. Es sind nicht nur ihre Themen, es ist auch ihr Ton. Ihre Haltung. Ihr Blick. Es ist die Suche nach Identität, die sich in ihrer Arbeit spiegelt – nicht als klare Antwort, sondern als fortwährender Dialog mit sich selbst. Diese Suche zeigt sich auch in ihrer Offenheit gegenüber Materialien und Techniken: egal ob Malen, Nähen oder skulpturales Arbeiten – alles wird zum Mittel, um Fragen zu stellen, um zu erinnern, um sich selbst zu verorten. Es ist kein Zufall, dass Menschen mit gebrochenen Wurzeln oft besonders vielschichtig arbeiten. Ihre Kunst ist wie sie selbst: im Werden, nie ganz angekommen, aber immer unterwegs.

Warum so wenige? Und warum es trotzdem Hoffnung gibt.

Ich frage mich oft, warum in einer Stadt mit einem so hohen Migrant:innenanteil, so wenig Kulturschaffende mit ähnlichen Wurzeln sichtbar sind. Und ich drehe mich im Kreis – zwischen strukturellen Hürden und inneren Barrieren. Vielleicht lag es an der Zeit. Vielleicht an fehlenden Zugängen. Vielleicht auch daran, dass wir oft erst später begriffen haben, dass unsere Geschichten wertvoll sind.

Umso mehr Hoffnung schenkt es mir, wenn ich Menschen wie Adriana treffe. Junge Stimmen, die sich nicht festlegen lassen. Die sich nicht entscheiden müssen zwischen Malerei, Design, Tattoo oder Illustration. Adriana probiert aus. Sie forscht. Sie sucht. Und genau darin liegt ihre Stärke.

Offene Räume, offene Wege

Zurzeit teilt sich Adriana ein Atelier mit Lisa Rost im Opel Altwerk – ein weiteres Beispiel dafür, wie wichtig geteilte Räume sind. Räume, in denen nicht nur Kunst entsteht, sondern Begegnung. Ich bin gespannt, was wir noch von Adriana sehen werden. Und ich hoffe, dass viele andere ihre Spuren dort finden, wo sie ihre ersten gesetzt hat.

Denn Kunst beginnt oft nicht mit einem fertigen Werk – sondern mit einem Ort, an dem man sich traut, überhaupt anzufangen.

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