
Ein Leben in Linien, Schichten und Begegnungen
Ich bin unterwegs zu Inge Besgen. Sie wohnt in einer der bekanntesten Straßen Rüsselsheims – eine Straße, die durch Opel-Marketingfotos der 60er und 70er Jahre fast ikonischen Charakter hat. Die Bungalows verleihen ihr bis heute eine internationale Atmosphäre. In dieser Straße lebt Inge.
Unsere erste Begegnung war 2016, damals besuchte ich sie in ihrem Atelier im M55. Ich porträtierte Inge für meine Ausstellung in der Alten Mühle. Sie kam zur Vernissage, und von da an kreuzten sich unsere Wege immer wieder – ob im Chausseehaus, bei Gesprächen über Kunst oder wenn sie meine Arbeiten kritisch, aber wertschätzend inspizierte. Ihre Hinweise waren nie belehrend, sondern ein Austausch auf Augenhöhe. Ich besuchte sie danach häufiger zuhause Nach jedem Besuch bei ihr ging ich inspiriert nach Hause. Heute klingele ich wieder – und werde wie immer herzlich empfangen.
Von Ingelheim nach Rüsselsheim – eine Reise durch Kunst und Leben
Wir setzen uns an den Tisch, und ich beginne mit meiner ersten Frage: Wie bist du nach Rüsselsheim gekommen?

Geboren und aufgewachsen ist sie in Ingelheim. Sie erlebt die Kriegsjahre als Kleinkind, erinnert sich an eine Kindheit zwischen Zerstörung und Neuanfang. Schon früh fasziniert sie Materialität – als sie mit vier Jahren mit ihrer Mutter die Schneiderin besucht, spielt sie unter dem Tisch mit den Schnittresten, den „Läppchen“. Ihre Mutter glaubt an eine Begeisterung fürs Schneidern, doch Inge interessiert sich weniger für Mode als für die Haptik des Materials selbst – eine Faszination, die sich später in ihren Arbeiten als Materialporträts widerspiegeln wird.
Nach dem Krieg wird sie zunächst Herren-Schneiderin. 1959 zieht sie nach Rüsselsheim, wohnt in der Adam-Opel-Straße und weiß bereits: Hier will sie bleiben. Man sieht sie oft hochschwanger auf dem Moped zur Bauamt flitzen. 1961 kauft sie ein Grundstück und baut ihr Haus – mit eigenen Händen. Sie packt selbst mit an, gräbt Gruben, verlegt Natursteinböden. Ein Leben, das nicht in geraden Linien verläuft, sondern in Kreisen – Wege, die sich später wieder schließen.
Die Kunst als Rückkehr zu sich selbst
Inge arbeitet in vielen Berufen, weil die Lebensumstände es erfordern. Sie wird Sales Managerin bei Avon, gehört zu den besten in Europa, erhält zahlreiche Auszeichnungen. Doch irgendwann merkt sie: Da ist eine Leere, die keine Karriere füllen kann. Sie erinnert sich an einen Kurs in Südfrankreich, den sie einst bei einem Künstlerkollektiv besuchte. Sie beschließt, mit Leinwänden, Farben und ihrem R4 und inzwischen 18-jähriger Sohn nach Korsika aufzubrechen. 5 Wochen bleibt er, dann ist sie dort allein. Sie lebt in einer alten geschichtsträchtigen einsamen Mühle, ohne fließendem Wasser und ohne Strom. Sie beginnt zu malen, taucht ein in das, was sie wirklich erfüllt. 1978 beginnt dort ihre Selbstfindung.




Doch die Realität holt sie ein. Zurück in Rüsselsheim sucht sie Arbeit, bewirbt sich an verschiedenen Akademien. Ihre Mappe überzeugt – doch sie ist über 40 und eine klassische Ausbildung war nicht der richtige Weg. Dann ein Stipendium an der Sommerakademie Trier. 1981 folgt das Studium an der Gerrit Rietveld Akademie in Amsterdam, eine renommierte Institution für Malerei und Grafik. Sie erhält ihr Diplom in Malerei & Grafik, unterrichtet später selbst im Saarland. Aber Ihr Lebensmittelpunkt bleibt in Rüsselsheim. Ihr Haus gleicht bis heute einem Atelier.

Kunstnetzwerke, Freundschaften und prägende Begegnungen
Inge bleibt nicht für sich – sie gründet eine Kunstschule, berät angehende Künstler:innen, berät unter anderem Michael Riedel, der später international bekannt wird und durch konzeptuelle Reproduktionen und serielle Kunst beeindruckt. Sie lernt Hans Diebschlag kennen, den Rüsselsheimer Künstler, der mit seinen großformatigen, realistischen Arbeiten bekannt wurde. Mit seiner Schwester verbindet sie eine Freundschaft, mit Hans selbst pflegt sie einen Briefkontakt, als er sich entschließt, nach England zu gehen.
Auch mit Michael Emig ist sie verbunden. Bei einer Ausstellung von Ritzert hinterlässt sie einen Eintrag im Gästebuch – sie schreibt, dass ihr der Gummibaum mit den blauen Blättern gefiel, eine Arbeit, die sie Jahre zuvor zufällig entdeckt hatte. Ritzert ist amüsiert, lädt sie in sein Atelier ein, sie werden Freunde. 1994 erhält sie den Kulturpreis der Stadt für ihr großes Engagement. Mit dem Preisgeld reist sie mit Künstlerfreunden, darunter Werner Neuwirth, nach New York. 1994 ist sie u. A. auch Mitbegründerin des Kunstvereins.
Einflussreiche Werke und künstlerische Experimente
1996 zieht sie ins M55 auf dem Opelgelände, arbeitet an neuen Projekten. Sie stellt mit anderen Kollegen in den Opelvillen aus, wird 2000 Kurationsmitglied der Opelvillen. Ihre Werke werden international ausgestellt, sie erhält zahlreiche Auszeichnungen.
Zu ihren bekanntesten Arbeiten gehört die „rippeds“-Serie – Bilder aus Schnipseln alter Pornohefte, die sie in neue narrative Kontexte setzt. Daraus entsteht der Car-Masatru, ein Opel Omega, den sie für die Kunstmesse in Frankfurt gestaltet.
Von 2007 bis 2022 arbeitet sie an einem ihrer eindrucksvollsten Projekte: „Lebenslinien“ – ein interdisziplinäres Kunstprojekt. Sie wählt Rüsselsheimer Bürger:innen aus, es werden Psychogramme durch Psychoanalytiker erstellt, die Grundlage für musikalische Kompositionen hochwertiger Interpreten. Sie interpretiert die Stücke in Zeichnungen. 2022 sehe ich die „Lebenslinien“ das erste Mal live.

Spuren in Rüsselsheim und darüber hinaus
Ihre Werke sind tief mit Rüsselsheim verwoben. Sie finden sich bei den Hölls am Main, im Rathaus, in der Matthäuskirche. Auch über Rüsselsheim hinaus ist ihr Werk präsent: Sammlungen unter anderem im Frauenmuseum Wiesbaden, im Museum für moderne Kunst Wiesbaden, Österreich, Italien, Belgien und Holland. Seit 2022 sind annähernd 4.000 ihrer Werke im Archiv der Motorworld.
Mit 93 Jahren , bleibt sie Teil der Kunstszene. Wir verabschieden uns herzlich. Und mir ist klar: Um Inges Leben wirklich zu erfassen, bräuchte es hunderte ARTSBesuche.
Ich freue mich aufs Wiedersehen.