
Ein Netz aus Linien, Erinnerungen und Begegnungen
Die Sonne steht hoch, taucht die Marktstraße in warmes Licht. Ich schlendere hinunter, und da ist er, der erste Hinweis: KUNSTSCHAUFENSTER Werner Neuwirth. Ein Blick nach rechts, neben dem Reisebüro – sechzehn farbige Rechtecke, klar arrangiert auf der Fassade. Rechts oben signiert: W. NEUWIRTH. Seit 2012 ein stilles Manifest. Ein zweiter Hinweis.



Ich klingele an Werners Wohnatelier. Der Empfang ist herzlich, vertraut. Acht Jahre ist es her, dass ich hier war, damals für eine Videoreihe über Künstler aus der Region. Heute fühlt es sich an wie eine Rückkehr.
Drinnen, in seiner Wohnung, kocht Werner Kaffee. Während wir warten, sprechen wir über unsere gesundheitlichen Befindlichkeiten – beiläufig, aber nicht bedeutungslos. Mein Blick schweift zum Fenster. Französischer Balkon, Terracotta-Fliesen. Sofort bin ich in Südfrankreich, in Nîmes, dort, wo ich als Kind meine Familie besuchte. Ein Moment des Innehaltens.
Der Kaffee ist fertig. Wir nehmen uns ein paar Kekse als Proviant und gehen eine Etage tiefer ins Atelier.
Ein Leben aus Linien, Umwegen und Entscheidungen
Sein Atelier wirkt, als hätte jemand kurz die Pausetaste gedrückt. Kein Chaos, keine erzwungene Ordnung – nur die Spur der letzten Arbeit, die gerade ruht, um später fortgesetzt zu werden. Werner arbeitet fast täglich.






Ich frage nicht, wo er aufgewachsen ist, das weiß ich, in Kärnten. Ich frage, wie er nach Rüsselsheim gekommen ist.
1972. Werner kommt nach Trebur, bleibt. Ohne Netz, ohne Plan B. Zunächst in einer Pension, bis ihn das Geld verlässt – und mit ihm die Unterkunft. Zwei Monate lang schlägt er sich durch, ein Vagabund am Dr.-Fritz-von-Opel-Platz. Dann nimmt ihn seine damalige Freundin auf. 1974 wird er Vater. Dreißig Jahre später hilft ihm sein Sohn, das ehemaliges Lager vom Hungsberg zu sanieren – sein heutiges Wohnatelier. Ein Ort, der bleiben darf.
Aber zurück zu 1972. Werner ist nicht nur Künstler, er ist Schlagzeuger. Musik ist sein erster Halt. Über eine Anzeige im Crusius Musikgeschäft findet er eine Band, hält sich über Wasser. Dann beginnt er zu zeichnen, Portraits gegen Schnitzel und Bier. Und die Zeichnungen wecken Erinnerungen. Schulzeit. Holzskulpturen. Hände, die Formen finden.
Die Entscheidung für die Kunst fällt. Er bewirbt sich am Städel in Frankfurt, wird angenommen, studiert bei Karl Bohrmann. Das Städel ist keine gewöhnliche Kunsthochschule. Seit 1817 prägt es Generationen von Künstlern, ein Ort voller Möglichkeiten.
Sein erstes Atelier? Das Wohnzimmer in Büttelborn. Später zieht er in die Alte Zimmerei nach Nauheim. Während des Studiums lernt er Ottmar Hörl kennen, ein Künstler, der später durch seine seriellen Skulpturen berühmt wird.
Ein anderes Zeitalter, eine andere Sicht auf Kunst
Wir sprechen über damals. Die Main-Spitze hatte noch eine Kulturredaktion. Man wurde informiert über Ausstellungen. Es gab Platz für Künstlerportraits. Eine andere Zeit.
Die Kunstverladehalle am Bahnhof war damals ein Dreh- und Angelpunkt. Dort trifft Werner auf Uwe Wenzel, Martin Kirchberger, Michael Emig. Uwe besucht ihn regelmäßig, die Begegnungen hinterlassen Spuren. Über Michael Emig kommt er immer öfter nach Rüsselsheim.
Dann die Brüder Uwe und Gert Tobias, die bei Werner im Atelier in Nauheim ein- und ausgingen. Die Künstlerbrüder mit rumänischen Wurzeln, die mit Holzschnitt und Druckgrafik neue Narrative erschaffen. Ihre Arbeiten erzählen von Migration, Identität und Geschichte. Inge Besgen, eine Künstlerin mit einem tiefen Gespür für Mixed Media, für Schichten aus Farbe, Erinnerung, Substanz. Eine Verbindung, die in gemeinsamen Projekten mündet.
Und dann Karl-Heinz Becker, Gründer des Rüsselsheimer Kunstvereins. Ein Netz aus Begegnungen, aus Menschen, die bleiben. Werner ist bis heute im Kunstverein aktiv, ist für die Hängung verantwortlich, organisiert Ausstellungen mit, hält die Struktur lebendig. Im Kunstverein lernt er auch Martina Altschäfer kennen, die mit Materialität experimentiert, textile Elemente in ihre Werke einarbeitet.
Linien, Verbindungen, Fortsetzungen
Werner hat teilweise mit 14 Galerien zusammengearbeitet, viele Arbeiten von ihn sind in öffentlichen und privaten Sammlungen vertreten. Ans Aufhören denkt er nicht. Denn Kunst ist kein Projekt mit Enddatum.
Die Linie ist sein Medium. Alles ist Verbindung. Schnittpunkte. Netzwerke.


Seit zehn Jahren fertigt er auch Tonskulpturen an – ein Material, das uns beide verbindet. Ich erkenne darin nicht nur eine weitere Ausdrucksform, sondern eine Fortsetzung. Jede Linie hat ihre dreidimensionale Entsprechung. Jede Zeichnung kann eine Form werden.


Ein Anruf, eine neue Verbindung
Kurz bevor ich gehe, sprechen wir über die Artmap. Ich erzähle ihm, dass ich mehrere Künstler kontaktiert habe, um Informationen über ihre Werke in Rüsselsheim zu sammeln.
Er lacht. „Dann hast du sicher auch Detlef Kraft angerufen?“
Ich schüttele den Kopf. Keine Nummer, keine Möglichkeit.
Er winkt ab, greift zum Telefon. „Den kenne ich gut, wir sind in der Darmstädter Sezession.“ Ein paar Worte, ein kurzer Austausch. Dann legt er auf.
„Detlef sagt, du sollst dich einfach melden.“
So einfach kann es sein. Eine Linie trifft auf eine andere. Ein neuer Schnittpunkt entsteht. Ein Netzwerk lebt weiter.