Stolpersteine*

17. August 2017

53 Pflastersteine im Format von 10 x 10 cm mit einem gravierten Messingschild sowie eine Stolperschwelle erinnern im Stadtgebiet von Rüsselsheim an die Opfer des Nazi-Regimes und an mutige Menschen, die Widerstand leisteten und den Opfern zu helfen versuchten (Stand Mai 2020). Seit 2007 gibt es dieses Projekt. Die Stolpersteine findet man verteilt über die ganze Stadt, aber nicht wahllos: Jeder Stein erinnert dort an ein Opfer, wo es einst lebte, wo sich sein Wohnhaus oder Geschäft befand, wo es zuhause war. Die Stolpersteine geben den Opfern ein Gesicht und das Stolpern über sie ist als Moment des Innehaltens gedacht. Der Künstler Gunter Demnig sagt über sein (auch an vielen anderen Orten verfolgtes) Projekt:

„Wenn du den Stein lesen willst, musst du eine kleine Verbeugung machen. Dann verbeugst du dich vor den Opfern.

So sagt der Künstler Gunter Demnig:

„Wenn du den Stein lesen willst, musst du eine kleine Verbeugung machen. Dann verbeugst du dich vor den Opfern."

Hier findet man eine Übersicht über alle bisher erfassten Opfer
Wer das Projekt unterstützen möchte kann das hier tun!


 

„HIER WOHNTE“ – es folgen Name, Geburtsdatum, Martyrium und Schicksal eines Opfers der NS-Zeit. Zigtausendmal wird in Deutschland sowie in 21 anderen europäischen Ländern die Geschichte betroffener Menschen auf kleinen Pflastersteinen im öffentlichen Raum erzählt und individuell erinnert. 54-mal zeugen auch im Rüsselsheimer Stadtgebiet solche Stolpersteine von den Gräueltaten der Nazizeit. In den meisten Fällen wurden sie vor der letzten frei gewählten Wohnung der gedachten Opfer in den Boden eingelassen. Verantwortlich für die Verlegungen zeigt sich eine lokale Initiative, die vor Ort seit 2007 besteht. Das „Projekt Stolpersteine“ kann allerdings schon auf eine sehr viel längere Geschichte zurückblicken.

Initiator des Projekts ist der 1947 in Berlin geborene Künstler Gunter Demnig. Sein Heranwachsen im politisierten Berlin der 60er-Jahre hat ihn und seine Arbeiten geprägt. So fügt sich das Stolperstein-Projekt schlüssig in sein Œuvre ein, bei dem es dem Künstler darum geht, Spuren im öffentlichen Raum zu legen. Bereits 1990 hatte er in Köln mit einer künstlerischen Intervention an die Deportation von 1.000 Roma und Sinti erinnert. Am 16. Dezember 1992 verlegte er vor dem Historischen Rathaus der Stadt Köln einen Stein mit einer Messingplatte, in die er die ersten Zeilen des sogenannten Auschwitz-Erlasses von Heinrich Himmler zur Deportation der Sinti und Roma eingeschlagen hatte, und nannte ihn Stolperstein. Eine offizielle Genehmigung der Stadt für die Verlegung gab es zunächst nicht. Bis heute hat sich das Projekt allerdings zu einem erheblichen Maß institutionalisiert. Seit Ende 2014 gibt es die „Stiftung – Spuren – Gunter Demnig“, die seitdem die Fortsetzung des Projekts koordiniert und, angesichts des millionenfach verübten Unrechts, auf lange Zeit sichern soll. Bis 2002 wurden Recherche, Herstellung, Finanzierung und Verlegung der Steine allein von Gunter Demnig geleistet. Seither gründen sich allerorts Initiativen, die die Aktionen im einzelnen organisieren. Bis zum Ende des Jahres 2019 wurden insgesamt 75.000 Erinnerungszeichen gesetzt.

Heutige Verlegungen gehen „auf Initiativen der Zivilgesellschaft zurück“ (Assmann 2013, 66). In der Verantwortung der Beteiligten liegt es, die Schicksale der NS-Opfer zu recherchieren, Paten für die Finanzierung zu finden, Kooperationen mit Schulen zu erarbeiten und die Ergebnisse der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Die Rüsselsheimer Initiative kann neben den eigentlichen Stolpersteinverlegungen auf eine Veröffentlichung (vgl. Strojec 2012) und einen Webauftritt verweisen, in dem viele Biografien von Opfern in ausgearbeiteter Form präsentiert werden. Eine Besonderheit in Rüsselsheim ist es, dass hier 2016 eine Stolperschwelle eingeweiht wurde. Davon gibt es zur Zeit erst wenige. Sie sollen an ganze Opfergruppen erinnern wie in Rüsselsheim an die 7.000 Zwangsarbeiter, die in den Opelwerken arbeiten mussten.2 Zu finden ist die Schwelle vor dem Hauptportal des Opel-Altwerkes.

Stolpersteine werden für alle NS-Opfergruppen verlegt. Lokal fallen häufig gewisse Unterschiede auf, da an bestimmten Orten manche Opfergruppen stärker vertreten sind als andere. In Rüsselsheim liegen z.B. verhältnismäßig wenige Steine für jüdische Opfer. Eine Erklärung kann in der Geschichte der jüdischen Gemeinde gefunden werden. Die Zahl der bis zuletzt in Rüsselsheim verbliebenen Juden war während der NS-Zeit recht klein, da diejenigen, die sich nicht schon ins Ausland absetzen konnten, „versuchten in die Anonymität benachbarter Großstädte zu flüchten“ (Museum der Stadt Rüsselsheim 1980, 25).

Die Liste der Kritikpunkte am Stolperstein-Projekt ist lang. Dazu gehört der Vorwurf, Demnig verfolge vor allem kommerzielle Interessen. Manche meinen, die Form des Gedenkens sei in Anbetracht der vielen verlegten Steine zu inflationär. Andere behaupten, die Texte auf den Steinen würden an den Nazi-Jargon erinnern bzw. das Projekt habe nichts mit Kunst zu tun. Rein rechtlich stimmt das sogar, denn das Finanzamt sprach 2011 dem Projekt den Kunststatus ab. An Gewicht gewinnen solche Einwände, wenn sie von Betroffenen selbst vorgetragen werden: Prominenteste Kritikerin ist wohl die Zeitzeugin und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden in Deutschland Charlotte Knobloch (geb. 1932). Ihr ist der Gedanke zuwider, dass die Menschen, derer an dieser Stelle gedacht wird, gewissermaßen erneut mit Schuhen und Stiefeln getreten werden. Manche Kommunen, wie z.B. die Stadt München, haben diese Kritik aufgegriffen und sie zum Anlass genommen, keine Stolpersteinverlegungen zuzulassen. Befürworter des Projekts argumentieren dagegen, dass jeder in den Boden eingelassene Stein den Betrachtenden dazu zwingt, seinen Kopf zu senken, um die Inschrift lesen zu können. Damit würde er sich aber auch gleichzeitig vor den Opfern des nationalsozialistischen Terrorregimes verbeugen.

Das Stolpersteine-Projekt von Gunter Demnig fällt in eine Zeit des „regelrechte[n] Denkmalboom[s]“, der schon Ende der 1970er-Jahre „in Bezug auf den Zweiten Weltkrieg, die Shoa und das Unrechtssystem des Nationalsozialismus“ (Schmoll 2005, 12) zu beobachten ist. Stichworte, die damit einhergehen und häufig auch im Zusammenhang mit dem Projekt fallen, sind „Demokratisierung“ (Lipp 2008, 35), „Enthierarchisierung“ (ebd., 21) oder „Entmonumentalisierung“ (ebd., 35). Darüber hinaus wird dem Vorhaben das Attribut „dezentral“ zugeschrieben, womit auf das individuelle Gedenken verwiesen werden soll. „Der im Rahmen welthistorischer Ereignisse […] geschehenen individuellen Tragödie wird an Ort und Stelle gesellschaftlich gedacht“ (Fischer 2016, 9). In Rüsselsheim stehen die Stolpersteine damit nicht allein. Auch das „Mahnmal der Menschlichkeit“ für die 1944 gelynchten amerikanischen Piloten trägt ganz ähnliche Züge wie das von Gunter Demnig initiierte Projekt, das alle Bürgerinnen und Bürger zu einem bewussteren Umgang mit der Geschichte ihrer Stadt auffordert.

Literatur 

Assmann, Aleida (2013). Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München. 

Fischer, Norbert (2016). Gedächtnislandschaften in Geschichte und Gegenwart. Kulturwissenschaftliche Studien. Wiesbaden.

Lipp, Wilfried (2008). Kultur des Bewahrens. Schrägansichten zur Denkmalpflege. Wien.

Museum der Stadt Rüsselsheim (Hg.) (1980). Juden in Rüsselsheim. Katalog zur Ausstellung (Schriften des Museums der Stadt Rüsselsheim, Bd. 6). Rüsselsheim.

Schmoll, Friedemann (2005). Denkmal. Skizzen zur Entwicklungsgeschichte eines öffentlichen Erinnerungsmediums. Jahrbuch für deutsche und osteuropäische Volkskunde, 47, 1–16.

Strojec, Rolf (Hg.) (2012). Rüsselsheim setzt Stolpersteine. Lebensläufe, Dokumente und Materialien zu Verfolgung und Widerstand 19331945. Rüsselsheim.

Quellen

https://www.stiftung-spuren-gunterdemnig.eu [12.05.2020].

Text und Foto: Martin Koch

http://www.stolpersteine.eu/start/ [12.05.2020].

http://www.stolpersteine-ruesselsheim.de/ [12.05.2020].

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