Der Lesende*

27. August 2017

Fast als würden die Besucher der Stadtbücherei den Lesenden genau davon abhalten, versteckt sich die Skulptur des Darmstädter Künstlers Hermann Tomada aus dem Jahr 1963 als stiller Beobachter im Grünen.

Es handelt sich um eine abstrakte Plastik aus miteinander verschweißten Kupferplatten, die wie eine Vollplastik wirken. In der Konzeption ist es jedoch eher eine untypische Arbeit des Künstlers, der für eine noch abstraktere Formensprache bekannt ist.

Ich habe einen Großteil meiner Kindheit und Jugend in der Stadtbücherei verbracht. Mir ging es da meist so wie dem Sohn in der Bildergeschichte vom Schmöker von E. O. Plauen. Ich habe stundenlang gelesen und meist erst um 19 Uhr die Bücherei wieder verlassen, eine schöne Zeit.

Bei dem Lesenden handelt es sich um eine 2,10 Meter hohe Kupferplastik, die vor der Rüsselsheimer Stadtbücherei steht und in den frühen 1960er-Jahren von Hermann Tomada gestaltet wurde. Die abstrakte Figur zeigt einen Mann, der in einem Buch liest. Sie besteht aus mehreren verschweißten Kupferplatten. Ursprünglich stand die Skulptur vor der Bücherei auf dem Gelände der Max-Planck-Schule, zog dann aber mit der Bibliothek zusammen in den achtziger Jahren in den „Treff“ um (vgl. Otto 1988, 66f). Die Informationen über diese Skulptur sind eher dünn gesät und entstammen fast alle Rudolf Ottos Werk „Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim“ (1988) sowie dem Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994). Diese beiden Arbeiten sind im Grunde die einzigen Quellen, in denen sich genauere Hinweise finden lassen. Laut Denkmalkataster wurde die Plastik 1963 von der Stadt Rüsselsheim für 15.000 Mark erworben. In Ottos Werk hingegen wird, etwas widersprüchlich, sowohl das Jahr 1963 (Otto 1988, 66) als auch 1962 (ebd., 260) genannt. Wahrscheinlich ist, dass die Aufstellung 1963 mit dem Wegzug der Stadtbücherei von der Stadthalle zur Max-Planck-Schule erfolgte. Leider gibt es auch in der Stadtbücherei Rüsselsheim keine weiteren Unterlagen oder Informationen zu der Skulptur, wie eine Nachfrage ergab. Genaueres lässt sich nur noch über den Schöpfer der Plastik, Hermann Tomada, sagen: Tomada (1907–1990) war ein Darmstädter Künstler, der seit 1949 insbesondere als Bildhauer aktiv war. Sein Lebenswerk umfasst Werke im öffentlichen Raum an fast 50 verschiedenen Orten und Beteiligungen an über 90 Kunstausstellungen. Auch in Rüsselsheim sind ein weiteres Standbild und mehrere Reliefs von ihm zu finden (vgl. Otto 1988, 260). Ein letztes Detail lässt sich aus den Bildquellen zu der Skulptur erschließen: Vergleicht man die Fotos aus Ottos Werk, dem Denkmalkataster und der Artmap, erkennt man, dass im Laufe der Zeit die Handhaltung der Plastik verändert wurde. Zu Beginn sieht es so aus, als würde der Lesende einen tiefen Blick in das Buch werfen, das er erhoben hält, um sich ganz in die Lektüre zu vertiefen. Auf den neueren Aufnahmen hingegen sind Arme und Buch gesenkt, der Blick scheint jetzt über das Buch hinweg zu gehen. Wie es dazu kam oder warum die Handhaltung des Lesenden verändert wurde, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Sicher ist nur, dass dies nach dem Umzug der Skulptur an ihren neuen Standort erfolgt ist, denn alle Fotografien mit der neuen Handhaltung wurden erst dort aufgenommen. Die beigefügte Abbildung stammt aus dem Januar 2019 und dokumentiert den aktuellen Umgang mit dem Objekt. Ausgestattet mit einer farbenfrohen Wollmütze für die kalten Wintertage zieht das – in einem Grünstreifen vor der Stadtbibliothek eher unscheinbar platzierte – Kunstwerk zumindest temporär eine gewisse Aufmerksamkeit auf sich. Damit scheint sich Tomadas Hoffnung, dass „seine abstrakten Schöpfungen zur Zwiesprache zwischen Mensch und Künstler führen können“ (Otto 1988, 66), auch weiterhin zu erfüllen, obwohl er dies in einem etwas anderen Sinne gemeint haben könnte, als auf dem Foto zu sehen ist.

Text: Carina Kühn & Aaron Hock
Foto: Michael Simon

 

Quellen und Literatur

Artmap. http://artmap.kreativnoma.de [15. September 2018]. Denkmalkataster der Stadt Rüsselsheim (1992–1994). Kulturgegenstände der Stadt Rüsselsheim. Manuskript. Rüsselsheim (Stadtverwaltung). Otto, Rudolf (1988). Kunstdenkmäler und Kunst am Bau in Rüsselsheim. Rüsselsheim.


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